Wohin ich schaue, sehe ich nur Leute, die ihr Leben nicht mehr schaffen. Wir sind durch die digitale Welt völlig überfordert", regt sich Niki Glattauer, 59, auf. Ob man an der Do-it-yourself-Kassa die Scan-Vorrichtung nicht kapiert, mit dem Navi im Clinch liegt oder in der Endlosschleife des Callcenters verhungert. Seinen Frust hat der Autor und Schuldirektor in die Satire "Ende der Kreidezeit" (Brandstätter Vlg., € 24,90) verpackt, in der er eine Lehrerin durch ihren vorprogrammierten Alltag stolpern lässt. Also, Herr Glattauer, was stört Sie denn am Fortschritt?
WOMAN: Sie sagen: Wir leben in einer digitalen Irrwitz-Gesellschaft. Was meinen Sie konkret?
GLATTAUER: Das Problem ist, dass die digitale Welt noch nicht funktioniert, aber die analoge leider nicht mehr. Nehmen wir ein Beispiel: Man muss in der Bank heute eine Nummer ziehen und dann eine Stunde warten, bis dir einer eh nicht erklären kann, warum es etwas kostet, wenn man auf dem eigenen PC von seinem eigenen Geld etwas abhebt. Und dass du andererseits auf der guten alten Post heute drei Stunden in der Schlange stehst, nur um einen eingeschriebenen Brief aufzugeben.
WOMAN: Stört Sie der digitale Fortschritt?
GLATTAUER: Gar nicht, ich glaube ja auch, dass wir um die Digitalisierung nicht herumkommen. Aber wir leben heute genau in diesem Zwischenstadium, in dem wir mehr Versuchskaninchen sind als Nutznießer. Wir haben die Dinge nicht mehr im Griff, die Dinge haben uns im Griff.
WOMAN: Was zum Beispiel?
GLATTAUER: Fahren Sie mit Handy-Navi? Meine Frau schon, sie sagt, sie hat null Orientierung. Ich sage, vergiss doch bitte das Navi, schau dir den Stadtplan an und dann folge der Beschilderung. Aber sie fährt mit dem Navi. Und dann landen wir auf dem Weg vom 23. Bezirk in den 10., wo wir wohnen, plötzlich in der Shopping-City-Süd. Oder anderes Beispiel: Telefonieren. " dann wählen Sie bitte die Drei " Kennen Sie das? Du rufst jemanden an und kriegst auf eine einfache Frage statt einer einfachen Antwort in einer Tour nur Wahlmöglichkeiten. Du hängst stundenlang in der Warteschlange, und dann beenden die - nicht du, die! -das Gespräch, weil deine Frage nicht dabei war.
WOMAN: In Ihrem Buch gibt es diese surreal überzeichnete Szene, in der die Kassierin bei der Do-it-Yourself-Kassa zur Hilfe kommen muss. Sie schreiben, sie kommt "mit Warp-Antrieb aus dem Wurmloch geschossen".
GLATTAUER: Die Mitarbeiterinnen stehen dort Gewehr bei Fuß, weil man das als Kunde allein ja gar nicht hinkriegt. Überall stehen also die Damen, die früher Kassierinnen waren, und warten nur darauf, dir bei diesen Kassomaten helfen zu können, weil die entweder aus deinen Radieschen einen Joghurtbecher machen oder den Strichcode auf den Bananen nicht lesen können. Wer hätte sich denn gedacht, dass es sogar die viel strapazierte Kassierin schon bald nicht mehr geben wird. Nur noch Maschinen. Das ist doch verrückt.
WOMAN: Verschwinden dadurch zu viele Arbeitsplätze?
GLATTAUER: Ja, auf der einen Seite beklagen wir die steigende Arbeitslosigkeit, und dann schauen wir nicht nur untätig dabei zu, wie sie wegrationalisiert werden. Wir helfen auch noch kräftig mit. Heute erledigen wir den Job des Bankbeamten per Netbanking, den der Kassierin beim Kassomaten, statt Bodenpersonal am Flughafen gibt es Online-Check-in. Und alles zusätzlich zu unserer eigentlichen Arbeit. Und dann wundern wir uns, dass wir überfordert sind, dass wir die Nerven wegschmeißen.
WOMAN: Wechseln wir in Ihr angestammtes Terrain. Mit welchen Absurditäten werden Sie in Ihrem Schulalltag konfrontiert?
GLATTAUER: Zum Beispiel damit, dass du heute als Lehrer vor lauter Evaluieren und Dokumentieren und Archivieren und dazwischen Testen, Testen, Testen nicht mehr zum Unterrichten kommst. Die Hälfte deines Tuns ist Verwaltung deiner Tätigkeiten. Das ist irre. Auch als Schuldirektor bist du primär deine eigene Sekretärin. 80 Prozent deiner Zeit verbringst du mit Bürokratie und Administration. Da rede ich nicht davon, dass du sinnvolle Entscheidungen triffst, da rede ich vom Ausfüllen von Tabellen und Eintragen von Daten, und zwar doppelt. Zuerst digital in ein Schulverwaltungsprogramm und parallel dazu auf Papier. Ununterbrochen kuvertieren oder faxen wir Zeug, das wir digital eh schon bearbeitet haben. Wie gesagt, wir leben in der blödesten aller Zeiten, nämlich in einer Übergangszeit zweier Kulturtechniken.
"OHNE SMARTPHONE IST MAN NICHT GESELLSCHAFTSFÄHIG."
WOMAN: Welchen digitalen Service nutzen Sie am häufigsten, und worauf würden Sie gerne verzichten?
GLATTAUER: Auf meinen Smart-Trottel würde ich gerne verzichten, aber das lässt das Umfeld nicht mehr zu. Alle hängen daran. Die Dinger können heute so viel, dass du ohne einfach nicht mehr gesellschaftsfähig bist. All diese Apps! Von Shazam oder Spotify angefangen über Scotty bis Booking.com oder Amazon. Du kannst einfach alles überall schneller machen. Leider vor allem das Konsumieren. Und nochmals: Ich bin kein Feind dieser Entwicklung. Es gibt sie, aus. Wir sollten uns nur bewusst sein, dass das auch seinen Preis hat.
WOMAN: Ihre Tochter ist 15. Ist sie auch in der digitalen Welt zuhause?
GLATTAUER: Wenn sie nach Hause kommt und ihre Hausaufgaben gemacht hat, liest sie oder hängt am Smart-Trottel: Manchmal, bevor sie ihre Hausübungen gemacht hat, manchmal auch stattdessen. Sie redet nur noch ausnahmsweise mit uns. Okay, mit 15 haben wir früher mit unseren Eltern auch nicht geredet. Ich bin in meinem Zimmer auf dem Bett gelegen und habe stundenlang nur Musik gehört. Aber ich muss auch sagen: Sie verschlingt Bücher.
WOMAN: Ihre Tochter liest? Bücher?
GLATTAUER: Ja, sie ist eine echte Leseratte. Auch mein neunjähriger Sohn mittlerweile. Und beide lesen lieber auf Englisch als auf Deutsch. Ich bin ja baff, was Kinder heute alles können. Mir soll niemand kommen und sagen, dass Kinder heute weniger können als früher. Sie können in Wirklichkeit mehr, als wir damals gekonnt haben.
WOMAN: Man greift also heute nach wie vor zum Buch. Welche Literatur sollte es denn vorzugsweise sein?
GLATTAUER: Sie meinen, abgesehen von meinen Büchern und denen meines Bruders? (lacht) Nein, im Ernst, man sollte lesen, weil es neue Welten schafft. Weil es Aktivität und Kreativität der geistigen Art bedeutet. Aber wer sich diese Welten anderswo holen will, auf Netflix zum Beispiel - auch okay. Es gibt da diesen Satz von Dieter Hildebrandt, den hab ich jetzt im Karikaturmuseum in Krems zum ersten Mal gelesen: "Bildung kommt von Bildschirm und nicht von Buch, sonst würde es ja Buchung heißen."
WOMAN: Smartphone, iPad oder Tablet halten Sie im Vergleich zum Buch für geistig weniger aktiv und kreativ?
GLATTAUER: Jetzt haben Sie mich erwischt. Doch, den Gebrauch der digitalen Endgeräte halte ich im Prinzip auch für kreativ. Wenn ich sehe, was mein Sohn beim Beobachten seiner Lieblings-YouTuber lernt oder meine Tochter, die auf ihrem Handy zu 90 Prozent pintarestet. Das ist super, das bringt was, da lernen die etwas. Es ist der Missbrauch, der mich stört. Die Menschen gehen ja nicht lesend durch die Straßen oder schauen in der Zeitung nach, ob es eh regnet, wenn sie im Regen stehen. Mit ihren Handys tun sie aber genau das.
WOMAN: Und digitale Schulklassen, iPads statt Schulbücher - wie wichtig ist das für unser Bildungssystem?
GLATTAUER: Wenn ich jetzt polemisch sein wollte, würde ich sagen, man schafft auch den Führerschein, ohne vorher in der Schule auch nur eine Stunde darauf vorbereitet worden zu sein. In meinem Buch kämpft die Lehrerin eher damit, dass ihre Kinder nicht im Halbschlaf oder gar nicht in der Früh in der Schule antanzen, weil sie die halbe Nacht chatten, wischen oder idiotische Videos schauen.

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