"Inzwischen bin ich nur noch bekennende 90-Prozent-Perfektionistin", lacht Judith Heizer. Um zu verstehen, was sie damit meint, genügt ein Blick in ihren Lebenslauf. Die 44-Jährige wuchs im ländlichen Tirol der Achtziger auf, verbrachte dort eine "ganz normale und glückliche" Kindheit. Die Eltern seien beide nicht übertrieben ehrgeizig gewesen, Judith selbst wusste aber schon als Zehnjährige, dass sie später einmal einen Doktortitel haben würde: "Ich bin gerne gut in dem, was ich tue!"
So folgte drei Jahre nach dem ersten Doktorat der zweite Doktortitel, mit 29 schloss die Tirolerin noch drei weitere Zusatzqualifikationen ab. "Ich war hochambitioniert. Meine Definition von Erfolg war damals, eine der jüngsten Universitätsprofessorinnen Österreichs zu werden." Am Ende sei ihr ihre Krankheit dazwischen gekommen. "Zum Glück", wie sie heute sagt.
Krankheit? Dass das Tempo, welches die Akademikerin vorlegte, alles andere als normal war, merkte sie selbst lange nicht: "Ich mache keine halben Sachen. Dadurch verpasse ich schnell den Moment, in dem ich eigentlich merken sollte, dass 80 Prozent auch reichen würden." Irgendwann hatte Judith bis zu drei Jobs gleichzeitig, kannte kein Wochenende. "Ich habe die Dinge ja auch gern gemacht", meint sie fast rechtfertigend.
Ihr Körper sendete andere Signale. Heizer war zu der Zeit regelmäßig in Unfälle verwickelt, hatte kaum mehr Energie. Gehirnerschütterungen, Schleudertrauma und Knieverletzungen brachten sie allerdings nicht dazu, einen Gang zurückzuschalten: "Man entwickelt eben eine gewisse Härte sich selbst gegenüber."
Im Innersten wusste sie wohl schon lange, das "etwas nicht stimmte", die ständige Übelkeit und die massiven Schlafstörungen seien aber schlicht zur Normalität geworden: "Es schleift sich alles ein. Ich habe sogar weiter Lehrveranstaltungen gehalten." Dabei hätte die Tirolerin den Fragen der Studierenden oft gar nicht mehr folgen können: "Ich habe gesehen, dass sich die Lippen bewegen, aber nicht mehr gehört, was gesagt wurde."

Irgendwann gingen dann doch die Lichter aus. Sie selbst hätte diesen Punkt aber nicht kommen sehen. Auch KollegInnen und Familie waren überrascht: "Ich war eben eine Wahnsinnsperformerin. " Es war ein aufmerksamer Hausarzt, der die Overachieverin "sofort aus dem Verkehr zog", nachdem sie einmal mehr über extreme Übelkeit klagte und endlich ihre Maske fallen ließ. Es fehlte schlicht die Kraft für noch mehr Show. Drei Termine lang sammelten die beiden nur Symptome. Die Diagnose? Schweres Burn-out.
Burn-out geht mit emotionaler Erschöpfung, einem Gefühl von Überforderung sowie reduzierter Leistungszufriedenheit einher. Die Symptomatik wird allerdings uneinheitlich beschrieben – es gibt über 130 Symptome – und überlappt mit der diverser anderer Störungsbilder, wie beispielsweise Depression. Burnout-Syndrome können mit eher unauffälligen Frühsymptomen beginnen und bis hin zu völliger Arbeitsunfähigkeit führen.
Von 180 auf Null
Modellhaft wird die Krankheit in zwölf Stufen beschrieben. Judith befand sich auf der Skala bei 17, wie sie heute scherzt: "Erst, als ich dieselben Herzmedikamente wie meine Großmutter nehmen musste – nur in dreifacher Dosis – merkte ich langsam, was Sache war."
Ein ganzes Jahr dauerte ihr Weg zurück ins Leben. Ein Weg, auf dem sich die Tirolerin auf nichts mehr verlassen konnte, worüber sie sich bis dato definierte: "Ich war nicht länger die Smarte, die mit der schnellen Auffassungsgabe, die Show- und Lernmaschine." Fokus, Konzentration, Rhetorik-Skills? Alles weg. Was ihr blieb? Eine ärztlich verordnete Ruhe, Stillsitzen und Zwangspause.
"Ich war wie aufgebahrt. In den ersten vier Monaten konnte ich wirklich nur liegen." Selbst Lesen war Judith zu anstrengend. Nur für die Sitcom How I Met Your Mother reichte die Kraft manchmal: "Ich bin sogar im Sitzen kollabiert." Erst dann war eine Reha möglich. Judiths Arzt erzählt ihr später, dass er für ihren Reha-Antrag erstmals einen Leuchtstift verwendete. In "Minimaus-Schritten ging es danach back to life." Inklusive einiger Rückschritte: "Es gab immer wieder K.O.-Tage!"

Dank der Unterstützung von Familie, FreundInnen und guten ÄrztInnen lernte Judith so aber langsam, Unterstützung anzunehmen und nicht ständig funktionieren zu müssen: "In meinem Fall ging das auch gar nicht anders, ich konnte ja ohne fremde Hilfe nicht mal stehen!"
Nach Episoden voller Selbstmitleid und Selbsthass folgte die Bestandsaufnahme: Warum passiert mir das? Was soll ich hier lernen? Worin liegt der Sinn? Was darf ich ändern, damit mir das hier nicht mehr passiert? Stück für Stück setzte Judith ihr kleines Lebens-Puzzle frisch zusammen, lernte anders zu leben. Übte Selbstliebe, Geduld – und lotete vorsichtig ihre neuen Grenzen aus.
Die 180-Grad-Wende
Nicht alle begleiteten sie auf dieser Reise: "Ich wurde aus sämtlichen Rollen herauskatapultiert. Da blieben schon ein paar Menschen auf der Strecke. Aber die, die nach solch einem Überlebenstraining noch bleiben, die sind's wert!"
Ein knappes Jahrzehnt später, sieht die 44-Jährige ihr Burn-out als Geschenk. "Diese Krankheit hat mich auf große Fahrt geschickt. Die Reise war stürmisch, holprig und mehr als einmal wurde ich über Bord gespült." Trotzdem sei diese Zeit aus ihrer Biographie nicht mehr wegzudenken: "Sie hat alles auf den Kopf gestellt und mir gezeigt, wer ich tatsächlich bin und was für mich möglich ist!"
Natürlich sei heute nicht immer alles "Himmelblau und Konfetti", trotzdem ist alles anders. Sie lebt anders, ernährt sich anders, arbeitet anders. Zwar nicht unbedingt weniger, wie sie schmunzelnd zugibt, die Haltung sei aber eine ganz neue: "Nochmal mach ich das nicht," ist sie sich ganz sicher: "Ich bin vielleicht noch immer perfektionistisch, aber in a good way!" So arbeitet sie heute nicht nur auf der Uni, sondern auch als Life-Coachin.
Was Judith Heizer anderen Menschen raten würde, die ebenfalls Gefahr laufen, in die Burn-out-Falle zu rutschen? Eine Inventur. "Irgendwann hat man vor lauter Know-How kein Know-Why mehr vor Augen!" Mache ich meine Arbeit wirklich gern oder will ich's nur jemandem beweisen? Wie sehr spüre ich mich noch? Warum mache ich die Dinge, die ich tue? Ist es ein Kampf? "Es hilft, den eigenen Körper genau zu beobachten", so die Coachin.
"Heute macht es viel mehr Spaß 'ich' zu sein"
Mit genau diesem Rezept lebt Judith heute glücklicher denn je: "Wenn ich Bilanz ziehe, lächle ich vor mich hin. Ich bin dankbar für die Erfahrung." Und auch Erfolg definiert die Tirolerin heute anders: "Erfolg bedeutet für mich nun, meine Stärken und Talente in eine Form zu gießen, die mich und andere glücklicher machen. Mich meinen Dämonen zu stellen und sie in hilfreiche Geister zu verwandeln. Erfolg bedeutet, Lust zu haben auf jeden Tag, der vor mir liegt. Und mir die Zeit zu nehmen, all das zu genießen."
Aktuell schreibt Judith Heizer an einem Buch über ihre Erfahrungen mit Burn-out. Wir halten euch auf dem Laufenden!