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Nur die Nerven? Woher weiß ich, dass ich Hilfe brauche?

Nennen wir das Kind beim Namen: Wir sind in der Zwischenzeit alle erschöpft. Extrem erschöpft. Aber wann wird aus Stress und Angst ein psychisches Problem? Und kann ich einer Depression mit Selbsthilfe-Apps zu Leibe rücken?

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Nur die Nerven? Woher weiß ich, dass ich Hilfe brauche?
© Photo by Bibarys Ibatolla on Unsplash

Wie geht es dir gerade? Also wirklich? Seit Beginn der Pandemie leiden rund acht Prozent der Bevölkerung in Österreich unter einer schweren depressiven Symptomatik. Bei einer Untersuchung im Jahr 2014 war es nur ein Prozent. Diese Zahlen stammen von einer parlamentarischen Anfragebeantwortung von Gesundheitsminister Rudolf Anschober. Die Daten sind aus der Zeit vor dem zweiten Lockdown, stellen also eine Art Zwischenbilanz dar. Die letzten Wochen dürften die Situation aber nicht gerade verbessert haben.

Das bestätigt auch die Psychotherapeutin und Coachin Barbara Haid. Man könne sogar von einer richtiggehenden "Corona-Depression" sprechen: "Sorgen und Ängste, aber auch gefühlte und reale Bedrohungen, stellen in Corona-Zeiten für alle Menschen eine große Herausforderung dar." Vor allem die damit verbundenen Isolationsmaßnahmen, Social-Distancing und Co seien für die Menschen eine starke Einschränkung der persönlichen Freiheiten, aber auch eine Herausforderung für die psychische Gesundheit. Die Summe von all dem würde bei immer mehr Menschen unter anderem zu Depressionen führen.

Was ist eine Depression genau?

"Eine Depression ist eine psychische Erkrankung, die sich in verschiedenen Beschwerden sowohl psychisch als auch körperlich äußern kann. Ein zentrales Merkmal einer Depression ist eine enorme Niedergeschlagenheit. Man kann sich an nichts mehr wirklich erfreuen. Man fühlt sich den Anforderungen des Alltags nicht mehr gewachsen, auch wenn diese sehr klein sind. Man ist bei geringer körperlicher oder emotionaler Anstrengung sehr schnell erschöpft. Der Antrieb, die Motivation sind sehr reduziert. Die dazu gehörenden Gefühle sind häufig Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Nutzlosigkeit bis hin zu suizidalen Gedanken. Interessensverlust und Freudlosigkeit sind weitere Kennzeichen."

Aber auch weniger eindeutige Anzeichen können auf eine Depression oder Angststörung hindeuten:

  • ständige Müdigkeit
  • zu viel / zu wenig Schlaf
  • verschiedenste Schmerzzustände und Verspannungen
  • Veränderung des Essverhaltens und des Appetits
  • vermehrter (sozialer) Rückzug
  • verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
  • negative Gedankenspiralen
  • vermindertes Selbstwertgefühl

Generation Einsamkeit?

Dabei sieht die Psychotherapeutin die körperliche Distanz als eigentlich gravierendstes Problem der Covid-19-Pandemie. Mit ungeahnten Langzeitfolgen für uns alle: "Ohne körperliche Nähe und Wärme verkümmern wir ein Stück weit. Das führt zu Angst und Traurigkeit, vermehrt aber auch zu Wut, Zorn und Ärger. Wir Menschen brauchen außerdem Ziele und Visionen. Also beispielsweise eine Idee, was wir im kommenden Sommer machen möchten. Sich auf etwas zu freuen ist ein zentraler positiver Motivationsfaktor." Günter Klug, Präsident von Pro Mente Austria, drückt es noch drastischer aus: Soziale Isolation stelle sogar ein größeres Gesundheitsrisiko dar als hoher Blutdruck, Übergewicht oder Rauchen.

Woher weiß ich, dass ich Hilfe brauche?

"Wenn sich der Alltag nur noch im Kreis dreht und das Gefühl besteht, alleine nicht mehr zurechtzukommen", sei es Zeit, sich Hilfe zu holen, so die Psychotherapeutin Haid. Am Ende ist es für betroffene Personen aber oft schwierig, den Zeitpunkt zu erkennen, die Reißleine zu ziehen. Selbst, wenn der subjektive Leidensdruck spürbar ist und das Umfeld die Veränderungen rückmeldet, werden psychische Probleme oft abgetan.

Mag. Barbara Haid ist eine Psychotherapeutin und Coachin aus Tirol. Mehr über ihre Arbeit findet ihr unter www.transformberatung.com


Wir haben bei der Expertin nachgefragt, wie man sich ein objektives Bild seiner Beschwerden und Symptome machen kann:

Ist es nur Sorge und Angst oder "richtige“ Panik?

Haid: "Angst ist ein Gefühl und eine normale Reaktion auf Gefahr. Sie soll Menschen helfen, die Ursache der Gefahr auszuschalten oder ihr zu entkommen.
Wird diese Angst zu groß spricht man von Angst als Erkrankung. Bei Angststörungen sind die Angstgefühle sehr stark ausgeprägt und überschreiten ein normales, gesundes Maß. Auch ist der Anlass oft nicht adäquat. Sowohl die Lebensqualität, als auch der Alltag der Betroffenen wird dadurch massiv beeinträchtigt. Wird diese Angst als sehr intensiv wahrgenommen, spricht man von Panik. Dabei kommt es zu Angstanfällen, gekennzeichnet durch körperliche Symptome wie Herzrasen, Kurzatmigkeit und Schweißausbrüchen. Als Panikattacke bezeichnet man das plötzliche Auftreten von intensiver Angst, das nicht durch eine bestimmte Situation ausgelöst wird. Die Angst steigert sich innerhalb weniger Minuten zu einem Höhepunkt."

Unruhiger Schlaf oder bereits eine ausgewachsene Schlafstörung?

Haid: "Schlaflosigkeit kann Teil einer Schlafstörung sein. Schlaflosigkeit ist ein aktuell gestörtes Schlafverhalten. Von einer Schlafstörung spricht man, wenn es zu einer regelmäßig, länger andauernden Abweichung des normalen und gesunden Schlafes kommt, länger als vier Wochen kein ruhiger und erholsamer Schlaf möglich ist und der Alltag unter anderem durch Tagesmüdigkeit, Konzentrationsstörungen und Leistungsschwäche beeinträchtigt ist."

Ein bisserl Stress oder doch schon am Rande des Burn-Outs?

Haid: "Chronischer Stress zählt zu den zentralen Ursachen von Burn-Out. Stress zeichnet sich durch viele Symptome aus, es gibt Ähnlichkeiten zu Burn-Out und die Grenzen sind fließend. Stress wird empfunden, wenn einem etwas (oder alles) zu viel wird. Die Reaktionen dafür sind sowohl mental, emotional als auch physisch.

Ein zentraler Unterschied zum Burn-Out ist aber, dass Stress zeitlich begrenzt ist und demzufolge auch nur vorübergehend empfunden wird. Zentral ist aber, dass beim Burn-Out kein Ende in Sicht ist. Betroffene sind teilweise weniger emotional, energiegeladen und haben irgendwann auch nicht mehr die Kraft der stressigen Situation entgegenzuwirken.

Es kommt dadurch zu einer Ansammlung von unverarbeitetem Stress über einen langen Zeitraum. Es ist also nicht temporär und demzufolge auch kein Ende in Sicht. Betroffene empfinden den Zustand wie einen Negativspirale voller negativer Emotionen, die sie immer weiter nach unten zieht, oder wie einen Berg, der immer höher und höher wird. Burn-Out ist eine Erkrankung, die der Depression sehr ähnlich ist. Sowohl das Erbringen von Leistung, als auch Arbeiten wird irgendwann unmöglich."

Exit-Strategien bei psychischen Problemen

Wie man Depressionen, Ängsten, Einsamkeit und massivem Stress im ersten Schritt begegnen kann? Mit dem Erkennen der schwierigen Lage: "Ich bin ein Mensch, der zurzeit Probleme hat, kein 'Problemmensch". So wird das Problem benennbar und von mir als Person etwas distanziert", so Haid. Diese Schritte seien elementar, um Veränderung zu bringen: Erkennen -> Benennen -> Verändern.

Auch kann es hilfreich sein, sich über psychische Erkrankungen wie Angst, Depression oder Burn-Out zu erkundigen. Es gibt viele Beiträge in den sozialen Medien, in denen psychische Erkrankungen sehr gut beschrieben werden. Dort werden sie enttabuisiert und entstigmatisiert.

»Ich bin ein Mensch, der zurzeit Probleme hat, kein 'Problemmensch'!«

Ein weiterer nächster Schritt kann dann die Kontaktaufnahme mit professionellen Helfernetzen sein. Beratungsstellen, niedergelassene PsychotherapeutInnen sowie psychotherapeutische Ambulanzen sind hier sicher geeignet. Aber wie sieht's mit den derzeit boomenden Selbsthilfe-Apps aus?

Selbsthilfe-Apps als Lösung?

So, wie viele Menschen “Dr. Google” befragen, kann man sich auch mit psychischen Problemen Hilfe im App-Store suchen. Dort wimmelt es von sogenannten Therapie-Helfer-Apps wie etwa Arya, Daylio, Moodpath oder Selfapy. Diese Anwendungen sind darauf ausgerichtet, positive Denkmuster und Verhaltensweisen in den Alltag einzubinden. Sie zielen damit vor allem auf Depressions-Kranke ab.

Arya wurde etwa von Kristina Wilms ins Leben gerufen, da sie selbst eine Zeitlang unter akuter Depression litt. Nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie habe sie zuerst geglaubt, alles im Griff zu haben, so Wilms in einem Interview. Doch erst im Laufe der Zeit, mit Hilfe einer ambulanten Therapie, habe sie gelernt, ihre depressiven Schübe zu erkennen. Und dieses “Tracken” habe sie dann in Form ihrer App für alle greifbar gemacht.

Einen Schritt weiter geht Selfapy. In der deutschen App werden nicht nur Hilfesuchende im Chat oder per Telefon mit TherapeutInnen verbunden, sondern auch Online-Therapiekurse angeboten. Die Wirksamkeit dieser wurde sogar mit einer Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf bewiesen. In einem Gespräch mit WOMAN erklärten die drei Gründerinnen, die selbst Psychologinnen sind, dass die App wegen mangelnder Therapieplätze entstanden sei. Es gebe zu viele Hürden auf dem Weg zu einer Therapie und so würden viele Hilfesuchenden einfach durchs Netz fallen.

Können Apps eine Therapie ersetzen?

Selfapy versteht sich durchaus als Möglichkeit, Therapie per Handy zu machen. Die Anwendung ist in österreichischen App-Stores nicht zu finden. Denn: Bis 2020 war es in Österreich gesetzlich nicht erlaubt, eine Online-Psychotherapie (oder per Telefon) anzubieten. Das hat die Corona-Krise verändert: Nun können Online- oder Telefon-Therapiestunden mitunter sogar als Kassenplätze verrechnet werden.

»Bis 2020 war es in Österreich gesetzlich nicht erlaubt, eine Online-Psychotherapie (oder per Telefon) anzubieten.«

Apps wie Arya hingegen vermarkten sich nicht als Therapie-Ersatz. Doch für Personen, die akut Hilfe brauchen, könnte der Eindruck entstehen, man bräuchte nur eine App um wieder ins seelische Gleichgewicht zu kommen. “Digitale Beziehungen ersetzen zumindest zum derzeitigen Technikstand zwischenmenschliche Live-Beziehungen nicht. Veränderungswirksame Kommunikation und Interaktion können nur zwischen Mensch und Mensch stattfinden, persönliche Interaktionsprozesse sind nicht ersetzbar.”, so Henriette Löffler-Stastka im WOMAN-Gespräch. Die Fachärztin leitet den Universitätslehrgang für Psychotherapieforschung an der Medizinischen Universität in Wien. Dieser Forschungsbereich ist um die Qualitätssicherung der Psychotherapie bemüht.

Löffler-Stastka sieht die Entwicklungen des letzten Jahres aber auch kritisch: “Ob Online-Psychotherapie tatsächlich denselben Behandlungserfolg – auch langfristig – erzielt, ist Gegenstand der aktuellen Forschung.” Denn: “Ganz wesentlich ist die Therapeutische Beziehung. Dabei verlaufen 50 bis 80 Prozent der Kommunikation nonverbal.”

Therapie-Apps als Add-On?

“Apps können verständlicherweise den Therapeutischen Kontakt nicht substituieren, aber gut ergänzen, wenn dies den Bedürfnissen der Menschen entspricht.” Um diese Bedürfnisse abzufragen, setze man bei aktuellen Forschungen auf „patient and public involvement“, also auf die direkte Mithilfe von PatientInnen. “Viele Studien laufen noch, um hier wirklich eine fundierte und differenzierende Antwort geben zu können.”, erklärt Löffler-Stastka.

Psychotherapeutin Magdalena Ségur-Cabanac

Die Wiener Psychotherapeutin Magdalena Ségur-Cabanac steht reinen Online-Therapien zwar kritisch gegenüber, aber sie arbeitet mit KlientInnen, die die erwähnten Apps tatsächlich benutzen – zusätzlich zur Therapie. „Für manche Klient*Innen macht es durchaus Sinn, ihre Gefühle und Stimmungen zu tracken, um sich selbst besser verstehen zu können. Als Gestalttherapeutin arbeite ich sehr viel mit Achtsamkeitsübungen, da ein Gewahrsein beziehungsweise ein Gewahrwerden der eigenen Innenwelt – Gefühle, Bedürfnisse, Stimmungen, Gedanken – ein wesentlicher Bestandteil des Therapieprozesses ist. Das Notieren oder Eintragen in die App macht Zusammenhänge sichtbar, was positiv zur Therapie beitragen kann" so Ségur-Cabanac im Gespräch mit WOMAN.

Doch Therapeutin wie Forscherin sind sich einig: Noch haben Apps einen limitierten Nutzen. Löffler-Stastka beschreibt dies so: “Ich fürchte, dass etliche wirklich schwer psychisch kranke Menschen hier – zumindest zum derzeitigen Zeitpunkt – nicht wirklich mit Apps erreicht werden. Um als Mensch in einen vertrauensvollen Veränderungsprozess zu gelangen, bedarf es der direkten Kommunikation mit psychotherapeutisch geschulten Menschen."

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