Es sei ein tägliches Drama, spricht die Psychotherapeutin Sabine Wery von Limont Klartext. An die 30 Prozent aller Patienten, die in den Praxen von Allgemeinärzten auf Hilfe hoffen, sitzen da eigentlich vergeblich. "Denn die Ursache ihrer Probleme steckt nicht in ihrem Körper, sondern in ihrer Seele. Der Körper stellt nur die Bühne zur Verfügung, auf der die psychischen Leiden sich inszenieren." Doch bis diese Patienten bei einem Psychiater oder Psychotherapeuten landen, müssen sie meist eine Odyssee von Arzt zu Arzt bewältigen. Begriffe wie "Ärztehopping" oder "Syndrom der dicken Akte" wurden bereits geprägt. Und wer dann endlich beim Seelendoktor ist, wird häufig als "verrückt" abgestempelt. " Das ist das Klischee, das von der jahrhundertealten Trennung von Körper und Seele noch immer nachwirkt."
Doch die Zeiten für unser "mystisches" Organ werden besser. "Immer deutlicher zeigt sich, dass die Seele hinter sehr viel mehr Krankheiten steckt, als man je vermutet hat, und zwar ganz konkret", weiß die Hamburger Therapeutin, die dem Thema ihr neues Buch "Das geheime Leben der Seele (Mosaik, € 16,50) widmete. Rückenschmerzen, Kopfweh, Immunerkrankungen, Diabetes: Die Seele gerät immer mehr ins Visier. Besonders eng arbeitet sie mit dem Herz zusammen. Bestes Beispiel: das Broken-Heart-Syndrom. Patienten haben alle Erscheinungen eines Herzinfarkts, ohne tatsächlich verschlossene Herzkranzgefäße aufzuweisen. Was ist passiert? Die Seele hat nach dramatischen persönlichen Ereignissen mit sehr viel Stress-Output auf sich aufmerksam gemacht: Hallo, mir geht 's schlecht! Der hohe Stresslevel kann das Herz so weit reizen, dass seine Arbeit total durcheinandergerät und es verkrampft. "Man weiß heute", so Wery von Limont, "dass psychische Probleme auch hinter Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck und koronarer Herzkrankheit stecken können." Letztere, so ist heute wissenschaftlich belegt, wird durch belastende Erfahrungen in der Kindheit mindestens genauso stark beeinflusst wie durch Rauchen, zu viel Cholesterin oder Bewegungsmangel.
Eine neue Disziplin, die Psychokardiologie, die auch die Buchautorin vertritt, kümmert sich um die Wechselbeziehung von Herz und Seele. Mit großem Erfolg, wie erste Erfahrungen mit Herzpatienten zeigen, deren Probleme sich nach Therapiesitzungen besserten. "Als mündiger Patient sollte man auf zusätzlicher Psychotherapie bestehen." Denn die Seele, so die Expertin, mag es gar nicht, wenn man sie nicht wahrnimmt oder gar ins Lächerliche zieht. " Das zahlt sie heim!"
Wo wohnt die Seele eigentlich?
Im limbischen System, weiß man heute, dem Gefühlszentrum im Gehirn. "Biologisch gesehen ist sie also ein paar Zentimeter groß, und man kann ihr mit einem Magnetresonanztomografen gut bei der Arbeit zusehen", verät die Autorin. Die Seele steckt hinter fast jeder Entscheidung, die wir treffen, denn sie reagiert viel schneller, als wir denken können. Ihre Messages sind fürs Überleben aber auch viel wichtiger. Denn wo die "vernünftige" Großhirnrinde melden würde: Erdbeere, Mensch, Ohrensessel, Braunbär, hat das Gefühl sofort die Bewertung parat: lecker, apart, gemütlich, Lebensgefahr. "Wir denken zwar", betont Wery von Limont, "dass Gefühle vor allem da sind, damit wir uns romantischer fühlen, aber eigentlich sind sie das härteste Gefahrenabwehrsystem der Welt." Wir rümpfen die Nase über Essen, das komisch riecht, weil es verdorben sein könnte. Wir empfinden Liebe, um an einem guten Gegenpol dranzubleiben, Wut, um uns zu verteidigen. Wir spüren Kränkung, um alarmiert zu sein, weil uns vielleicht gerade der Ausschluss aus der Gemeinschaft droht, ohne die wir verloren sind. Eifersucht und Neid signalisieren uns, dass wir womöglich gerade von wichtigen Ressourcen abgeschnitten werden. Wir sind neugierig, weil alles, was wir hinzulernen, von Bedeutung für das Überleben sein kann. Wenn etwas von Bedeutung war, merken wir es uns und ersparen so auch der Seele viel Arbeit. Sie muss dann nämlich nicht jedes Mal etwas neu bewerten, sondern vergleicht, ob sie schon mal Ähnliches erlebt hat. Das führt aber auch dazu, dass jeder von uns die Welt sehr unterschiedlich wahrnimmt, durch die Brille bereits gemachter Erfahrungen und niemals objektiv. "Wenn wir uns mit unserem Partner über die Wahl der neuen Badezimmerfliesen streiten, ist das ziemlich sinnlos, weil wir nicht einmal alle dasselbe Grün sehen." Die Seele funktioniert ein bisschen wie WhatsApp. Sie schickt uns immer wieder wichtige Messages. Beispiel: "Man sitzt auf dem Sofa und denkt: Ich sollte wieder mal Claudia treffen. Das könnte daher kommen, dass in unserem Körper zu wenig stimmungsaufhellende Stoffe, Endorphine, ausgeschüttet werden, und, um den Level zu erhöhen, unser Bedürfnis nach sozialer Nähe steigt. Denn für Geselligkeit belohnt uns das Gehirn mit seinen besten Drogen. Gemeinschaft ist schließlich lebensnotwendig." Also nicht vergessen: Plötzlich einschießende Gedanken können wichtige Nachrichten sein.
Bei unserer Geburt ist unser Gehirn noch ein Rohbau ...
... verputzt und fertig gebaut wird das Haus mithilfe unserer Mitmenschen, schreibt Wery von Limont. "Bereits angelegt ist in jedem von uns zum Beispiel die Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen. Aber wir sind darauf angewiesen, dass jemand anderer sie uns beibringt. Bei den Gefühlen ist es genauso. Wir brauchen Lehrer, die uns zeigen, wie das geht." Bekommt jemand in jungen Jahren sozusagen schlechten Unterricht, erfährt etwa zu wenig Zuwendung und Liebe, spricht er später darauf womöglich gar nicht mehr an, weil die verantwortlichen Hirnstrukturen nie aktiviert wurden. Die Folge kann sein, dass sein Level an dem stresssenkenden Wunderhormon Oxytocin ständig zu niedrig ist und er körperlich krank wird. Und wie bildet sich dieser Superstoff? "Man sollte Menschen finden, mit denen man sich verbunden fühlt. Nähe suchen, Nähe geben. An und in guten Beziehungen arbeiten, ob Partner, Freunde, Familie, Kollegen. Oder auf Menschen, die uns einfach irgendwo begegnen, zugewandt reagieren."
Aber unser "Haus" kann auch ganz schön instabil ausfallen. Frühkindliche Belastungen wie Missbrauch oder Verlassenheitserfahrungen brodeln in unserer Seele weiter, bis wir sie wahrnehmen und behandeln. Denn schlechte Erfahrungen - auch die im späteren Leben, wenn uns jemand enttäuscht, schlecht behandelt oder demütigt - versickern nicht einfach irgendwo. "Sie sind für die Seele ebenso toxisch wie Alkohol für die Leber", weiß die Therapeutin. "In der Leber können Nerven untergehen und den Stoffwechsel verändern. In unserem Gehirn auch. Fühlen wir uns etwa ständig wie ein Versager, hässlich und unnütz, verändert das unsere Nervennetzwerke. Schaltkreise können gestört werden, Synapsen untergehen. Und gute Botenstoffe, die wir als Belohnung für Motivation brauchen, können nicht mehr landen. Dann kann die ganze Welt ihren Reiz verlieren." Die gute Nachricht ist: "Die Veränderbarkeit des Gehirns, wir nennen sie neuronale Plastizität, macht Denken, Bewerten, Handeln, Fühlen bis zum letzten Atemzug möglich." Durch jede neue Erfahrung verschaltet es sich neu. "Es kann sich also lohnen, mit 70 noch den Lettisch-Kurs zu belegen oder zu versuchen, ein freundlicherer Mensch zu werden." Der gleiche Mechanismus wirkt in der Therapie: "Psychische Störungen sind nicht einfach nur seltsame Spielarten der Persönlichkeit, sie beruhen in der Regel auf falsch gebahnten Netzwerken und Strukturen im Gehirn. Weil bestimmte Erfahrungen, Denk-und Verhaltensweisen so lange massiv auf uns eingewirkt haben, bis diese Strukturen sich dahingehend verändert haben." In der Therapie ist es möglich, neue Bahnen zu legen, von denen dann ein anderes Verhalten, Fühlen und Denken ausgeht.
Da gibt's übrigens in puncto Disziplin ...
... etwas dazu zu sagen: Menschen, die zu viel trinken, rauchen oder essen, können sich meist tatsächlich schlechter zusammenreißen, weil ihre Neurobiologie so angelegt ist. In unserem Kopf springen bei Versuchungen immer zwei Systeme an: der Nucleus accumbens, das Belohnungssystem, und der präfrontale Cortex, ein Teil des Frontallappens. Das eine sagt: "Los, mach, das wird super", das andere bremst: "Komm, das ist jetzt unvernünftig. Lass es lieber." Bei manchen Menschen unterliegt der Pocher auf Vernunft eher als bei anderen. Warum? Weil er weniger gut ausgebildet ist. Wieder können frühkindliche Belastungen dahinterstecken, die ihn geschwächt haben. Weil ein Dauerfeuer von Stresshormonen seine Zellen killte, während die noch in der Entwicklung steckten. Die Folge: eine schlechtere Impulskontrolle.
Was will die Seele eigentlich?
Sie hat vier Grundbedürfnisse: 1. Selbstwerterhöhung. 2. Bindung. 3. Kontrolle und Autonomie. 4. Lustgewinn und Unlustvermeidung. Ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl korreliert mit psychischer Gesundheit. Menschen, die es haben, glauben an sich und ihre Fähigkeiten. Dadurch muten sie sich eher Dinge zu, die ihnen wiederum positive Gefühle und Zuversicht bereiten. Das macht glücklich. Jeder Mensch hat ein tiefes Bedürfnis nach einem guten Selbstwert und danach, sich geliebt und einzigartig zu fühlen. Das ist, so Wery von Limont, das Fundament, auf dem unser Leben steht. Ein verletztes, fragiles Selbstwertgefühl kann die Ursache von Depressionen, Ängsten und Essstörungen sein. Am Selbstwert zu arbeiten, ist daher eine der besten Investitionen in die Gesundheit.
Das zweite Grundbedürfnis der Seele, die "Bindung", haben wir schon erörtert (siehe Oxytocin), das dritte ist ebenfalls spannend: Die Seele ist nämlich ein Kontrollfreak. Sie braucht jederzeit die Gewissheit, dass die Situation, in der wir uns befinden, beherrschbar ist. Kein Wunder: Die Kontrolle zu verlieren, bedeutet nichts anderes, als sein Leben zu gefährden. Jeder Mensch braucht das Gefühl, mit Situationen fertigwerden zu können. Die Fähigkeit, uns als "wirksam" zu erleben, wird ebenfalls schon früh im Leben ausgebildet. Ständig streben wir etwas an und erfahren, ob wir damit Erfolg haben oder nicht. Je nachdem entwickeln wir eine Das-schaffe-ich-schon-Haltung oder werden zum Vermeider. Menschen mit hoher "Selbstwirksamkeitserwartung" haben eine höhere Lebenszufriedenheit, mehr Selbstvertrauen und mehr Resistenz gegen Stress.
Bleibt noch das letzte Grundbedürfnis: Lustgewinn und Unlustvermeidung. Das spüren wir tagtäglich sehr deutlich, denn wir suchen immer nach schönen, lustvollen Dingen. Und alles, was schlecht und schmerzhaft ist, wollen wir vermeiden -klar, es könnte uns schaden. Für bessere Effizienz sind wir mit Rückmeldesystemen ausgestattet. Mit einem Schmerzsystem, einem Ekel-und einem Paniksystem. "Hier sieht man besonders deutlich, wie Körper und Seele zusammenarbeiten. Die Seele passt über diesen Mechanismus auf, dass der Körper gesund bleibt", so die Expertin. Ein kleiner Tipp: Wenn negative Gedanken Sie quälen, sagen Sie laut "STOPP!", und betrachten Sie ein Foto, mit dem Sie schöne Erinnerungen verbinden. Die Seele wird diese Gefühle sofort wieder aufrufen.
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