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So hilfst du deinem Kind, eine gesunde Beziehung zum Essen zu entwickeln

Sollen die Kleinen selbst entscheiden dürfen, wann sie naschen? Und muss ein Sechsjähriger wirklich den Brokkoli kosten? Anti-Diät-Diätologin Isabel Bersenkowitsch klärt auf.

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So hilfst du deinem Kind, eine gesunde Beziehung zum Essen zu entwickeln
© Ernährungsrevolution / WOMAN

"Wenn du das gesunde Gemüse aufisst, bekommst du die Nachspeise", "Mit dem Essen spielt man nicht" oder "Du hast doch noch kaum etwas angerührt" sind Aussagen, in denen sich wahrscheinlich viele Eltern wiederfinden. Im Folgenden geht es um eine neue Perspektive, die den Alltag vereinfachen kann und Kinder in einem gesunden Umgang mit ihrer Ernährung unterstützt.

Bevor wir in die ernährungspsychologischen Dos eintauchen, ist es äußerst wichtig, dass wir über die Gewichtsstigmatisierung und deren Don’ts sprechen. Ärzt*innen weisen besorgt auf die gesundheitlichen Risiken hin, wenn das Körpergewicht eines Kindes über dem definierten Normwert liegt. Die Negativ-Spirale aus Ernährungsregeln und Kontrollverlust beginnt damit sehr früh.

In guter Intention werden Kinder zur Bekämpfung der als ungesund deklarierten Kilos auf Diät gesetzt, zu mehr Bewegung gezwungen und manchmal sogar in "Fat-Camps" geschickt. Der erwünschte Erfolg tritt in den wenigsten Fällen auf. Im Gegenteil: Was ein Kind dabei lernt ist vor allem, dass es nicht gut genug ist, sich selbst nicht vertrauen kann und seinen Körper hassen muss.

»Essstörungen haben unter allen psychischen Erkrankungen die höchste Sterblichkeitsrate.«

Linda Bacon, eine amerikanische Wissenschaftlerin, Autorin und Aktivistin für Körperrespekt, hat das Resultat dieser Maßnahmen in Zahlen zusammengefasst: Für ein Kind ist es 242 Mal wahrscheinlicher eine Essstörung zu entwickeln, als an Diabetes Typ 2 zu erkranken.* Essstörungen haben unter allen psychischen Erkrankungen die höchste Sterblichkeitsrate.

Die Gesundheit wird im Namen der Gesundheit ruiniert

Es gilt daher genauso wie bei Erwachsenen, gesundheitsförderndes Verhalten anzustreben und dem Körper die Möglichkeit zu geben, sein natürliches Sollgewicht selbst zu finden. Wir sollten endlich akzeptieren, dass Diversität Teil der menschlichen Existenz ist und Gesundheit nur durch gesundheitsförderndes Verhalten gesteigert werden kann – und zwar unabhängig vom Körpergewicht.

"Wenn du das Gemüse isst, bekommst du die Nachspeise"

Als Diätologin kenne und schätze ich natürlich die Kraft pflanzlicher Lebensmittel. Essen als gesund oder ungesund zu beschreiben, ist trotzdem überflüssig. Ganz einfach: Es gibt kein einziges Lebensmittel, das uns alle Nährstoffe liefert, die wir für eine umfassende Gesundheit brauchen. Wenn sich ein Kind die Nachspeise verdienen muss, wird Gemüse zum notwendigen Übel, welches es zu überwinden gilt.

Dass "Ungesundes" zusätzlich als Belohnung eingesetzt wird, sendet eine widersprüchliche Botschaft: Zum einen sind die Lebensmittel "schlecht", aber auch irgendwie "gut", wegen des belohnenden Charakters. Sie sollten aber nie als Anreiz eingesetzt werden (z.B. "Wenn du beim Impfen tapfer bist, bekommst du ein Eis") und für das Essen (z.B. von Gemüse), sollte es auch keine Belohnung geben.


Wie bringt man Kinder dann dazu, nährstoffreiche Lebensmittel zu genießen?

Ernährungswissenschaft. Kinder sind meistens sehr interessiert an dem, wie die Welt und der eigene Körper funktionieren. Wir können die Vor- und Nachteile nährstoff- und energiereicher Lebensmittel gegenüberstellen, ohne ihnen dabei einen moralischen Wert zu geben.

Geduld. "Mit dem Essen spielt man nicht" ist eine völlig falsche Devise, denn die Akzeptanz neuer Lebensmittel wird auf jeden Fall mit einem spielerischen Charakter und sensorischem Experimentieren gesteigert. Wenn wir Kindern ein neues Lebensmittel vorstellen, kann es manchmal bis zu 20 Versuche brauchen, bis sie es akzeptieren. Wohlgemerkt, dass natürlich auch Kinder angeborene Vorlieben und Abneigungen haben.

Kreativität. Neue Lebensmittel können attraktiver werden, wenn Kinder in den Prozess eingebunden werden. Zum Beispiel, indem sie sich ein Gemüse im Supermarkt aussuchen dürfen, das sie bislang noch nie auf dem Teller hatten. Die Akzeptanz wird noch einmal verstärkt, wenn sie in das Kochen und Zubereiten eingebunden werden. Dass das nicht jeden Tag möglich ist, ist natürlich klar.

Vorbildfunktion. "Tu, was ich tue" funktioniert meistens besser als "Tu, was ich sage".

Restriktion als starker Autonomie-Gegner

Die meisten Kinder haben ein natürliches Bedürfnis nach Autonomie. Mit jedem Versuch, das Essen zu kontrollieren, wird diese verletzt und ist deshalb in den seltensten Fällen zielführend. Wenn wir Kindern erklären, dass sie selbst Expert*innen für ihren Körper sind und gleichzeitig erwähnen, was ein Körper alles braucht, um gesund zu sein, kann daraus eine starke intrinsische Motivation entstehen, selbstfürsorgliche Entscheidungen zu treffen. Werden einmal Ernährungsentscheidungen getroffen, die sich negativ auf das Wohlbefinden auswirken, zum Beispiel Naschen bis zur Übelkeit oder starker Hunger beim Zubettgehen, weil das Spielen zuvor wichtiger war, sind das ebenfalls wertvolle Erfahrungen, aus der sie lernen können.

Naschen erlaubt

Eine Regulation der Menge und Verfügbarkeit von Süßigkeiten kann das Bedürfnis nach Naschen künstlich erhöhen – es wird damit aufregend und besonders. Kinder, die zuhause keinen Zugang haben, neigen eher dazu, sich bei einer externen Gelegenheit (Geburtstage, Feste, …) massiv zu überessen. Eine emotionale Äquivalenz kann nur erreicht werden, wenn wir Lebensmittel auch so behandeln. Das würde bedeuten, dass wir Süßes die gleiche Bedeutung wie Karotten oder Brot zuschreiben. Wir würden hier auch keine Mengen oder Verfügbarkeiten beschränken. Dennoch ist es wichtig, Rahmenbedingungen zu bestimmen. Zum Beispiel, nicht während einer Ablenkung wie Fernsehen zu naschen. Die Kinder sollen sich Zeit nehmen, um das, was sie essen, mit allen Sinnen erfassen zu können. Außerdem ist es wichtig, über Genuss zu sprechen. Gleichzeitig sollten Eltern viele unterschiedliche Lebensmittel bereitstellen und über Inhaltsstoffe und Auswirkungen im Körper aufklären.

»Gesunde Snacks sollten genauso verfügbar sein wie der schnelle Griff in die Naschlade.«

Bei der Umstellung von regulierten auf verfügbare Süßigkeiten ist Geduld und Vertrauen sehr wichtig. Das Kind wird natürlich zuerst einmal testen und aufholen, was es verpasst hast. Mit der Zeit stellt sich dieses Verhalten aber ein. Bezüglich des Alters ist es sinnvoll, gewisse Naschereien etwas später "vorzustellen".


"Du hast doch noch kaum etwas gegessen"

Kinder werden als intuitive Esser*innen geboren – das bedeutet, sie ernähren sich selbstregulierend nach Hunger- und Sättigungsgefühl. Für Eltern kann das manchmal eine ganz schöne Herausforderung sein, denn die gegessene Menge variiert stark. An manchen Tagen essen sie so viel wie ein*e Erwachsene*r, an anderen Tagen kaum einen Bissen. Das hat vor allem damit zu tun, dass Kinder in Schüben wachsen und sich eine stärkere, körperliche Aktivität ebenfalls auf den Appetit auswirkt.

Kinder versorgen sich in Achtung ihrer Selbstregulation spätestens innerhalb einer Woche mit allem, was sie brauchen. Es kann also hilfreich sein, von der isolierten Mengenbetrachtung einer Mahlzeit oder eines Tages Abstand zu nehmen und sieben Tage als großes Ganzes zu betrachten.

Wenn wir Kinder dazu bringen, ihre inneren Signale zu übergehen, weil wir vielleicht finden, dass sie noch nicht genug gegessen haben, werden diese auf lange Sicht geschwächt. Das kann die Beziehung zum eigenen Körper und zum Essen stören.

Auch wenn das manchmal schwer ist: Hab Vertrauen in dein Kind – es weiß am besten, wie viel es braucht.

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Folgt Isabel auf Instagram: @ernaehrungs.revolution.

*Bacon, L., & Aphramor, L. (2014). Body respect: What conventional health books get wrong, leave out, and just plain fail to understand about weight. BenBella Books.

Isabel Bersenkowitsch ist eine Anti-Diät-Diätologin aus Pasching (Oberösterreich) und lebt in Wien. Sie hat an der FH Campus Wien Diätologie studiert, war danach in einem Rehazentrum tätig und macht sich gerade mit einem multiprofessionellen Food Freedom Gruppencoaching selbstständig. Die Diätologin hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen zu einer intuitiveren Ernährungsweise zurückzuführen. Für WOMAN schreibt sie wöchentlich Gastkommentare über Essstörungen, Diät-Trends und den Zusammenhang zwischen Psyche und Ernährung.

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