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Exklusiv-Interview mit der Autorin Corinna Milborn über Biografie "Natascha Kampusch"

Die Journalistin & Buchautorin Corinna Milborn, 38, hat die Biografie über und mit Natascha Kampusch ("3096 Tage", List-Verlag, € 20,60) geschrieben. Sie hat unzählige Stunden mit dem Entführungsopfer verbracht, kennt sie wie kaum jemand anderer. WOMAN gab sie ein erstes exklusives Interview.


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WOMAN: Wie lange haben Sie an der Autobiographie von Natascha Kampusch gearbeitet? Lässt sich der Aufwand in Stunden benennen?

Milborn: Wir haben, mit Unterbrechungen, mehrere Monate an dem Buch gearbeitet. In Stunden ist die Arbeit gar nicht auszudrücken – es waren hunderte. Allein die Aufzeichnungen der Gespräche sind mehrere Dutzend Stunden lang. So eine Arbeit ist schwer zu planen und braucht Zeit, nicht Zeitpläne. Es hat sich jede einzelne Stunde davon gelohnt.
Das Buch zeigt, wie ein Mädchen, später eine junge Frau, mit einer unglaublichen Stärke eine Situation bewältigt, die eigentlich nicht zu bewältigen ist. Es ist die Geschichte einer Kämpferin.

WOMAN: Beschreiben Sie uns die Zusammenarbeit mit Natascha Kampusch …

Milborn: Wir hatten vor allem während der langen Zeit der Gespräche natürlich eine sehr enge Zusammenarbeit und haben uns sehr viel Zeit genommen – oft ganze Tage und lange Abende, manchmal verlängerte Wochenenden. Natascha Kampusch kann sehr präzise formulieren und hat erstaunlich genau Erinnerungen an kleinste Details in dieser langen Zeit der Gefangenschaft. Es war eine einmalige Erfahrung, mit ihr zu arbeiten.

Bild: List Verlag
© Bild: List Verlag

WOMAN: Haben Sie Frau Kampusch schon vor dem Buchprojekt gekannt?

Milborn: Nein, aber ich habe mich vorher, wie viele, sehr intensiv mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt.

WOMAN: Was war die größte Herausforderung?

Milborn: Die Details dieser Gefangenschaft sind unerträglich grausam. Das gilt für die körperliche Gewalt, die Schikanen, aber vor allem für die psychische Grausamkeit. Es ist kaum zu fassen, was Priklopil diesem Mädchen angetan hat – und es ist dementsprechend schwer, diese Erlebnisse in Worte zu fassen. Für Natascha Kampusch war sicher die größte Herausforderung, Dinge zu Papier zu bringen, die jeder normale Mensch am liebsten schnell vergessen und verdrängen würde, oder die man zumindest nicht an die Öffentlichkeit bringen will - was ihr nicht gegönnt ist.

WOMAN: Und wann ist es Ihnen schwer gefallen, weiterzumachen, durchzuhalten?

Milborn: Für mich war die größte Herausforderung, nach dieser intensiven und emotionalen Auseinandersetzung mit diesen Erlebnissen genügend Abstand zu gewinnen, um sie auszuwählen und erzählen zu können. An dieser Herausforderung bin ich schließlich auch fast gescheitert. Wir hatten das große Glück einer einmaligen Lektorin – Bettina Eltner – und einer großartigen zweiten Ghostwriterin, Heike Gronemeyer. Ohne diese Teamarbeit wäre das Buch nicht so gut geworden, wie es nun ist.

WOMAN: Das Besondere an „3096 Tage“ …

Milborn: Natascha Kampusch erzählt sehr viele Details aus dieser Gefangenschaft, die diese Geschichte zum ersten Mal greifbar machen. Für mich war es unendlich beeindruckend, wie diese junge Frau es geschafft hat, sich so weit anzupassen, dass sie überleben konnte – und doch über diese langen Jahre trotz der Gewalt und der Gehirnwäsche, der sie ausgesetzt war, niemals das Ziel der Freiheit aus den Augen verloren hat. Es ist insofern ein Buch, das vielen Menschen Mut machen kann: Der Beweis, dass man sich selbst retten kann, auch wenn es unmöglich erscheint.

WOMAN: Sie haben sehr viel Zeit mit Natascha Kampusch verbracht. Was zeichnet sie aus?

Milborn: Ihre Stärke und ihre Widerstandskraft. Natascha Kampusch steht zu sich – in einer Gefangenschaft, in der ihr selbst ihr Name geraubt wurde, und in einer Gesellschaft, die ihr allzu oft feindlich gegenüber steht. Das ist ihre größte Stärke. Zugleich hat sie nie die Neugier an der Welt verloren, im Gegenteil: Sie interessiert sich für Politik und Kultur, macht Musik, hat Freude an den kleinen, schönen Dingen des Lebens. Sie war ein Opfer, aber sie weigert sich, sich darauf reduzieren zu lassen, sondern versucht – so weit es unter diesen Umständen möglich ist – sich ihr eigenes Leben zu erobern. Dafür bewundere ich sie sehr.

WOMAN: Welche Erzählungen sind der jungen Frau am schwersten gefallen?

Milborn: Am schwierigsten zu erzählen war sicher die Zeit im Kellerverlies. Es sind Jahre voller schwer traumatischer Erlebnisse. Es ist ja eine sehr persönliche Geschichte, und es ist schwer in Worte zu fassen, wie sie mit diesen Extremsituationen umgegangen ist.

WOMAN: Und welches Kapitel hat Sie am meisten berührt?

Milborn: Für mich ist jedes einzelne Kapitel sehr berührend. Die Erinnerungen eines Kindes, das von seiner Familie abgeschnitten in einem Kellerverlies lebt, sind herzzerreißend. Die Schilderungen der Heranwachsenden, die sich selbst verspricht, sich zu befreien, wenn sie stark genug sein wird, sind erstaunlich und sehr beeindruckend. Die Grausamkeit, der sie als Teenager ausgesetzt war, ist emotional kaum zu ertragen – und das Durchhaltevermögen ringt Bewunderung ab. Am emotionalsten ist vielleicht der Moment der Befreiung: Dieser Mut, sich der Gehirnwäsche und Gewalt zu widersetzen und sich unter Lebensgefahr aus der Gefangenschaft zu lösen.

WOMAN: Warum hat sich Frau Kampusch überhaupt dazu entschieden, eine Autobiographie zu verfassen?

Milborn: Sie hat ja bisher – entgegen dem Eindruck mancher – von sich aus nicht sehr viel über die Gefangenschaft gesprochen. Dafür wurde in den letzten Jahren umso mehr spekuliert und teils haarsträubende Theorien in die Welt gesetzt. In diesem Buch steht nun die ganze Geschichte aus ihrer Warte. Es bleiben keine Fragen an sie offen. Damit birgt es auch die Chance, mit einem Kapitel abzuschließen. Die zweite Motivation ist, zu zeigen, wie man mit scheinbar ausweglosen Situationen umgehen kann. Es ist ein Buch, das Mut machen kann: Auch das war eine wichtige Motivation, es zu schreiben.

WOMAN: Kommt die Mehrtäter-Theorie im Buch nochmals aufs Tapet?

Milborn: Natascha Kampusch hatte ja immer nur mit einem einzigen Täter Kontakt. Das Buch zeigt alles, was sie weiß – andere Täter kommen darin nicht vor, und es hat sie wohl auch nicht gegeben.

WOMAN: Und welche Rolle spielen Natascha Kampuschs Eltern in ihrer Lebenserzählung?

Milborn: Das erste Kapitel des Buches ist Kindheitserinnerungen gewidmet. Natascha Kampusch zeigt darin, dass sie zwar keine besonders glückliche Kindheit hatte – aber eine recht normale. Die vielen Spekulationen darüber, was ihr schon vor der Gefangenschaft alles geschehen sein könnte, haben damit wohl ein Ende. Sie war ja ein Kind, als sie entführt wurde. Die Liebe zu ihren Eltern war sehr, sehr groß – und sie hat sie unendlich vermisst. Es ist sehr berührend zu lesen, wie sie ihrer Mutter in der Gefangenschaft kleine Geschenke bastelte und sich Sorgen machte, wie ihre Eltern wohl mit ihrem Verschwinden zurande kommen.

WOMAN: Dem Entführungsopfer schlägt auch viel an Antipathie entgegen. Woher rührt diese Missgunst?

Milborn: Das Ausmaß ist sehr schwer zu verstehen. Diese junge Frau ist durch die Hölle gegangen. Sie war ein Kind, als sie entführt wurde – und ich meine, dass sie alle Anteilnahme dafür verdient, was sie durchgemacht hat, und Bewunderung dafür, und wie sie es überlebt hat. Die Missgunst kommt wohl daher, dass ihr Fall eine überspitzte Form dessen ist, was oft in der Gesellschaft passiert: Kinder werden misshandelt, Frauen geschlagen, sexueller Missbrauch ist allgegenwärtig. Man will diese Widersprüche in der Gesellschaft nicht wahrhaben. Wenn nun ein Opfer nicht still verschwindet, sondern da steht und diesen Widersprüchen quasi ein Gesicht gibt, schlägt der Hass auf sie zurück. Es ist wohl einfach zu schwer zu ertragen, dass einem Kind so etwas angetan wurde, ohne dass es jemand bemerkt hat – deshalb versucht man unterschwellig, ihr eine Mitschuld in die Schuhe zu schieben. Auch wenn das gerade in diesem Fall komplett absurd ist.

Interview: Katrin Kuba