Kein Wasser, kein Strom, kein Brot. Der Krieg im Gazastreifen zwischen der islamischen Hamas und Israel wird immer brutaler und unnachgiebiger. In den seltenen Waffenpausen werden aus den Ruinen Tote, darunter viele Frauen und bereits 200 Kinder, herausgetragen. Die Hamas schießt zurück – und stellt menschliche Schutzschilder gegen die Angriffe auf.
Kriegszustände gehören in der Region seit 66 Jahren zum Alltag. Von den 1,8 Millionen Menschen im Gazastreifen leben zwei Drittel in Flüchtlingscamps. Infrastruktur ist kaum vorhanden, die Wohnverhältnisse sind eine Katastrophe. Wir fragten betroffene Frauen, wie der kaum zu bewältigende Alltag voller Angst in der Krisenregion aussieht.
Eine, die seit Jahren die Krise im Nahen Osten als Expertin beobachtet, ist Karin Kneissl, Ex-Diplomatin, Analystin und Gastprofessorin vor Ort:
WOMAN:
War der Grund der Eskalation im Gazastreifen die Entführung von drei israelischen Jugendlichen?
Kneissl:
Seit 2012 gab es eine Waffenruhe, die Israel und die Hamas einhielten. Die Entführung stellte eine Art casus belli dar, um die Angriffe per Luft und später die Bodenoffensive zu starten. Die israelische Regierung will die militärische Infrastruktur der Hamas zerstören. Die Hamas hat jegliche Verantwortung für die Entführung von sich gewiesen. Hingegen behauptet eine Gruppierung, die sich „Die Brigaden Jerusalems“ nennt und der ISIS nahesteht, die drei Israelis gekidnappt und ermordet zu haben. Es gibt neben der Hamas im Gazastreifen jüngere, radikalere islamistische Gruppierungen.
WOMAN:
Kann man definieren, was die Hamas ist, oder besteht sie aus mehreren Zweigen?
Kneissl:
Die Hamas ist ein Ableger der in Ägypten 1928 gegründeten Muslimbrüder und will eine islamische Rechts- und Gesellschaftsordnung umsetzen. Es gibt neben der Hamas weitere militante Gruppen, mit denen sie sich in einer gewissen Konkurrenzsituation befindet. Aber die Hamas hat die wesentliche militärische und politische Kontrolle im Gazastreifen und rivalisiert mit der PLO. Denn nach ihrem Wahlsieg 2006 brach zudem ein innerpalästinensischer Bürgerkrieg aus. Alle Versöhnungsprozesse scheiterten. Erst im Mai kam es zu einer Regierung der nationalen Einheit aus PLO und Hamas. Diese Koalition ist der israelischen Regierung ein Dorn im Auge. Sie sagt: Für uns ist ein möglicher Ansprechpartner immer die PLO unter Mahmud Abbas, aber mit der Hamas wollen wir nichts zu tun haben.
WOMAN:
Die Hamas hat unterirdische Tunnel gebaut, die vielfach eingesetzt wurden. Haben die Israelis das nicht bemerkt?
Kneissl:
Man wusste von den Tunnelbauten. Die Tunnel wurden geschaffen, um die Blockade des Gazastreifens zu umgehen. Die Hauptforderung der Bevölkerung im Gazastreifen und der Hamas ist die Aufhebung der Blockade. Dieser Küstenstreifen ist völlig isoliert. Man grub anfänglich Tunnel in Richtung Ägypten, um Waffen und Nahrungsmittel zu transportieren. Diese Tunnel befinden sich nun auf hohem technischen Niveau und reichen offenbar unterirdisch auf israelisches Territorium. Die Israelis haben diesen Ausbau der Anlagen, wie sie selbst sagen, teilweise unterschätzt. In diesen Tunneln sollen sich auch Kommandozentralen der Hamas befinden. Hier fanden schon Nahkämpfe statt, die zu schweren Verlusten der Israelis geführt haben.
WOMAN:
Wie definieren Sie die ISIS und wie steht sie zur Hamas?
Kneissl:
Sie stehen in einem Konkurrenzverhältnis. Die ISIS wird ins Deutsche immer übersetzt als islamischer Staat in Syrien und im Irak, die arabische Bezeichnung ist aber viel weiter gehend. Da heißt es islamischer Staat im Irak und in „Sham“, was ein alter arabischer Begriff für den gesamten östlichen Mittelmeerraum ist. Er reicht bis nach Sinai und umfasst Israel und die Palästina-Gebiete. Hier geht es zentral um die Errichtung einer islamischen Rechtsgesellschaft, einer Politordnung im Sinne des alten Kalifats. Der Kalif ist der spirituelle Nachfolger des Propheten Mohammed. In der islamischen Tradition hatten wir stets die politische und die religiöse Führung in einer Person. Die ISIS rekrutiert viele Anhänger unter radikalen Extremisten aus Europa und reichen Finanziers in den Golfstaaten. Inzwischen hat sie ihren Namen auf IS, also Islamischer Staat, geändert und kontrolliert ein grenzübergreifendes Gebiet zwischen Syrien und dem Irak. Die Hamas versteht sich als palästinensischer Widerstand mit einem islamistischen Programm, agiert aber pragmatischer als die Dschihadisten der ISIS.
WOMAN:
Die Hamas kämpft mit menschenverachtenden Mitteln, setzt Menschen als Schutzschilder ein und jubelt sogar über die Höhe der eigenen Opfer. Trotzdem gibt man Israel die Schuld, Kriegsverbrechen auszuüben.
Kneissl:
Die Situation vor Ort ist um einiges komplizierter. Der Gazastreifen gehört zu den am stärksten überbevölkerten Regionen weltweit. Es leben 1,8 Millionen Menschen auf knappem Raum. Wo und was auch immer bombardiert wird, es können immer Menschen dort sein. Tatsache ist, dass die Hamas über eine gewaltige Personalreserve an kampfbereiten jungen Männern verfügt. Ebenso hoch scheint die Opferbereitschaft der restlichen Bevölkerung, denn viele haben angesichts ihrer tragischen Lebenssituation wenig zu verlieren. Was den Vorwurf des Kriegsverbrechens von Seiten der Vereinten Nationen an Israel betrifft: Das Völkerrecht verurteilt die Beschießung von zivilen Zielen. Das ist eine Tatsache. Es wurden Krankenhäuser, in denen sich Flüchtlinge aufhielten, beschossen. Wenn eine Armee zivile Ziele beschießt, ist das ein Kriegsverbrechen. Wenn die Hamas einen Bus mit Zivilisten angreift, ist das Terrorismus. Ein Verbrechen lässt sich nicht gegen das andere aufrechnen oder als Gegenschlag rechtfertigen. Jedes Verbrechen ist für sich selbst zu beurteilen.
WOMAN:
Es gibt weltweit Proteste und Demonstrationen gegen Israel, aber keine gegen die Hamas.
Kneissl:
Die Palästinafrage mobilisiert seit den 1970er-Jahren Menschen immer wieder. Früher waren die Demonstranten eher linksorientiert, heute haben wir Demonstrationen, die vor allem von Muslimen getragen werden. Auch in Österreich sind Türken oder türkischstämmige Österreicher beteiligt, siehe das Fußballmatch in Bischofshofen. Die türkische Regierung vereinnahmt geradezu die Palästinafrage für ihre eigene Außenpolitik – und dies sehr zum Missfallen der Araber insgesamt. War der Palästinakonflikt früher ein nationaler – zwei Völker beanspruchen dasselbe Stück Land –, hat sich der Konflikt in den letzten 20 Jahren leider in eine andere Richtung entwickelt: Muslime versus Juden. Eine religiöse Mobilisierung hat die nationale abgelöst.
WOMAN:
Der religiöse Fanatismus trifft vor allem die Frauen. Können sie sich wehren?
Kneissl:
Der politische Islam ist auch eine Antiglobalisierungsbewegung. Man reagiert auf einen „Western Way of Life“, den man ablehnt, indem man sich verhüllt und einen Bart wachsen lässt, ostentativ versucht, seine Welt textilmäßig darzustellen, weil man sich abgrenzen will. Denn die anderen sind zu liberal und dekadent. Frauen machen hierbei teils freiwillig mit, teils ist der Druck der Familie gewaltig. Man denke nur an die Praxis der Ehrenmorde auch in Europa. Will eine Tochter anders leben, weil sie in Schweden oder Deutschland aufwächst, kann der Familienrat zu grausamen Maßnahmen schreiten. Meiner Beobachtung nach finden sich viele Parallelen der Frauenfeindlichkeit in den wesentlichen Weltreligionen. Dies gilt für den extremen Islam ebenso wie für die katholische Kirche oder das ultraorthodoxe Judentum. Und fanatische Hindus haben auch wenig Respekt für die weibliche Bevölkerung. Frauen sind aber nicht immer Opfer, oft genug spielen sie das Spiel mit. Dies gilt wohl vor allem für Mütter, die ihre Söhne als kleine Paschas aufziehen.
WOMAN:
In Israel stehen zwei Drittel der Bevölkerung hinter dem Raketenbeschuss, es gibt aber auch kritische Stimmen dagegen. Wenn der Zusammenhalt bröckelt und die Armee nicht mehr so stark ist, zeigt Israel Schwächen?
Kneissl:
Es gibt Kritik und eine Ermattung der Bevölkerung, weil der Alltag so aufreibend ist. Jeder Mann muss bis 45 Jahren einen Reservemilitärdienst leisten. Wie kann man daneben eine Firma führen? Die Steuern sind sehr hoch. Der Kitt, der die israelische Bevölkerung zusammengehalten hat, bröckelt. Denn vom traditionellen Zionismus der Gründerväter, die auch eine Blut-und-Boden-Ideologie verfolgten, indem sie aus den jüdischen „Luftmenschen“ des Shtetl einen Wehrbauern machten, ist wenig übrig geblieben. Die Kibbuz-Bewegung ist schon lange marginal. Und die rund eine Million Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion Ende der 1990er-Jahre haben sich nicht mehr so integriert wie Immigranten früherer Jahre. Es bildet sich eine Parallelgesellschaft zwischen den „Russen“ und dem Rest. Daneben gibt es den alten Spalt, der immer schon existierte, zwischen den europäischen und den orientalischen Juden. Die Orientalen waren immer schon ein bisschen die Underdogs.
WOMAN:
Ist die Zwei-Staaten-Lösung Israel und Palästina vom Tisch?
Kneissl:
Ich denke, ja. Ich habe sie nie gesehen. Wie soll sie umgesetzt werden? Die Grenzen ziehen, Rückkehrrecht der Flüchtlinge … Wo sind die Trennlinien? Für mich war die Zwei-Staaten-Lösung immer eine fragwürdige Angelegenheit. Aber die Palästinenser werden in einigen Jahren demografisch die Mehrheit stellen. Das ist die Knackfrage für Israel.
WOMAN:
Der Krieg wird ewig dauern?
Kneissl:
Ewig glaube ich nicht. Kriege, und das bitte nicht zynisch zu verstehen, Kriege haben ihr Ende, wenn alle Beteiligten völlig erschöpft sind. Wir haben mit kleineren und größeren Unterbrechungen einen Kriegszustand seit 1948. Die Leute haben sich an den labilen Zustand gewöhnt.
WOMAN:
Lösungsvorschläge gibt es keine?
Kneissl:
Es wurde alles probiert, und nichts hat funktioniert, um es banal zu sagen. Ein Vorschlag der Briten von 1937 ist noch immer der Beste: das Einstellen der Siedlungsbauten und ein Stopp der Gewalt.
WOMAN:
Sie sind eine anerkannt unparteiische Nahost-Expertin, sie sprechen arabisch und hebräisch, kennen die beiden Ethnien, sind blond. Ist man Ihnen nie mit Misstrauen entgegengekommen?
Kneissl:
Nein, in der Region selbst nicht. Das kam eher von den eigenen Landsleuten. Ich begegne dem Gegenüber mit dem erforderlichen Respekt und Ernstnehmen und habe mich nie in den Sold einer Bewegung gestellt. Ich komme nicht aus der Region, bin weder Jüdin noch Palästinenserin, daher tue ich mir leichter mit der gleichen Zuneigung wie Distanz.
Ich habe eine orientalische Gastfreundschaft und Herzenswärme erfahren dürfen, die mich geprägt haben. Dort habe ich gelernt, in Würde und Eleganz zu überleben. An der hebräischen Universität hatte ich unglaublich differenziert freidenkerische, präzise, profund gebildete Professoren und sehr reife Studienkollegen. Es gibt auf dieser Welt interessante und weniger interessante Menschen. Ich habe immer versucht, mich an die interessanten, aufrechten Menschen mit Kopf, Herz und Rückgrat zu halten. Das Leben ist zu kurz, um es mit den weniger interessanten Zeitgenossen zu vergeuden.
Kommentare