Im April dieses Jahres warnten Expertinnen, dass Gewalt gegen Frauen in der Corona-Krise steigen würde. Familien müssen seit dem Frühjahr Herausforderungen wie Homeschooling und Homeoffice meistern, verbringen mehr Zeit denn je miteinander, viele davon auf engstem Raum. Die Ausweichmöglichkeiten sind stark begrenzt. Dazu kommen finanzielle, oft existenzielle Sorgen. All das führt zu einem verstärkten Konfliktpotenzial. „In Familien, in denen sowieso Gewalt vorherrscht, wird es in nächster Zeit vermutlich noch mehr eskalieren", sagte AÖF-Geschäftsführerin Maria Rösslhumer gegenüber "Der Standard“ vor einigen Monaten. Und auch die Zahlen aus China haben gezeigt: Die Lage ist ernst. Durch die Ausgangsbeschränkungen haben sich die Fälle häuslicher Gewalt vervierfacht. Doch wie ist die aktuelle Lage hierzulande nach Monaten im Ausnahmezustand?
„Kein direkter Zusammenhang …“
„Wir haben ähnlich viele Frauen aufgenommen wie in den zwei Jahren davor. Corona hat daran nichts verändert“, resümiert Andrea Brem, Chefin der Frauenhäuser in Wien. Auch Michaela Gosch, Geschäftsführerin der Frauenhäuser in Graz bestätigt auf Anfrage von WOMAN: „Die Zahl ist nicht so hoch wie ursprünglich angenommen. Wir sind, auch wenn es medial oft anders propagiert wird, nicht überlastet und überlaufen.“ Ähnlich verhält sich das auch in puncto Weihnachten. Olinda Albertoni, Leiterin des Frauenhauses in St. Pölten: „Die Zahlen variieren um diese Zeit jährlich sehr stark. Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen konkreten gesellschaftlichen Ereignissen und der Auslastung im Frauenhaus.“

Jedenfalls, darf dieser Umstand, dass es coronabedingt keinen wirklichen Anstieg der Zahlen gab, nicht als positive Nachricht verbucht werden, warnt Klaudia Frieben vom österreichischen Frauenring: „Die Lockdowns haben verhindert, dass von Gewalt betroffene Frauen unbemerkte Telefonate führen oder gar fliehen konnten. Sehr viele nutzen sonst die Möglichkeit, Hilfe zu suchen dann, wenn er nicht zuhause ist. Das fällt aktuell vielfach weg.“
„Ein ganzes System ist plötzlich weggefallen.“
Gosch sieht außerdem in der überhaupt sehr unsicheren Gesamtsituation einen weiteren Grund, weshalb Frauen oftmals zögern, aus bestehenden Familienkonstrukten auszubrechen: „Auch wenn das eigene Daheim unsicher und gefährlich ist – da draußen gab es plötzlich ebenso viel Bedrohung. Ein ganzes System ist von einem Tag auf den anderen weggefallen, sodass es viele lieber in Kauf nahmen, es weiterhin zuhause auszuhalten und in Gewaltbeziehungen ausharren.“
Dazu kommt die Angst vor Ansteckung, hat Brem stark wahrgenommen: „Viele fürchten sich davor, sich zu infizieren, weil sie nicht wissen, was genau sie im Frauenhaus erwartet. Deshalb ist es uns ein ganz besonderes Anliegen, zu kommunizieren, dass wir alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um Krankheitsübertragungen zu vermeiden. Wir sind bis jetzt sehr gut durch diese Zeit gekommen.“ Im ersten Lockdown war eine einzige Bewohnerin in Wien positiv auf Corona getestet worden. „Nachdem aber jede Frau ihre eigene Wohneinheit hat und die Betroffene isoliert blieb, wurden keine weiteren angesteckt.“
Übrigens: WOMAN & Intimissimi verteilten 600 Geschenk-Boxen in Frauenhäusern. Den Bericht dazu findet ihr hier.
„Es ist ein ganzes System von Macht und Kontrolle.“
Christina Riezler vom Gewaltschutz in Salzburg berichtet hingegen durchaus von einem Anstieg an Beratungsgesprächen. Zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Aber diese Steigerung lässt sich nicht unbedingt auf Corona zurückzuführen: „Wir verzeichnen jedes Jahr eine permanente Steigerung, die vor allem auf die Sensibilisierungsarbeit zurückzuführen ist. Viele Frauen wissen oft gar nicht, dass das, was sie erleben, bereits unter Gewalt zu verbuchen ist.“ Im Schnitt braucht es drei bis fünf Telefonate, bis die Betroffenen dann auch konkrete Schritte einleiten. Aber, so Riezler, es ist nicht nur der Weg aus der Gewalt heraus ein Prozess, sondern auch alles davor: „Häusliche Gewalt lässt sich nie auf nur eine einzelne Handlung reduzieren. Es ist ein ganzes System von Macht und Kontrolle, das sich langsam aufbaut.“
So ist für die Expertin klar, dass Corona per se keine Aggressionen bei Männern auslöst, wenn auch die Umstände wie die aktuelle Krisensituation durchaus die Gewaltbereitschaft in vielen Fällen begünstigt.
Überhaupt, so Frieben, bringt die Krise noch deutlicher zum Vorschein, woran es schon so lange hapert: „Wir fordern eine vehemente Aufstockung der Gewaltschutz-Programme. Leider wird uns von Seiten der Regierung noch immer zu wenig Geld dafür zur Verfügung gestellt. Warum? Weil die Politik die Problematik bis heute nicht erkennt, ausreichend ernst nimmt und verharmlost.“ Auch das Gewaltschutzpaket 2019 kritisiert Frieben weiterhin scharf: „Ein Punkt umfasst die Anzeigepflicht, wonach automatisch Anzeige erstattet wird, sobald sich eine Frau in ärztliche Behandlung begibt und es offensichtlich ist, dass sie ein Opfer von Gewalt ist. Das ist zu wenig durchdacht. Dadurch verzichten viele Frauen darauf, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie an das denken, was nach der Anzeige mit ihnen passiert.“
Die wichtigste Botschaft aber bleibt für alle Expertinnen dieselbe: Niemand muss Gewalt aushalten. Albertoni: „Egal wie schwierig alle anderen Umstände auch sein mögen: Es gibt keinen Grund, Übergriffe zu dulden.“
Hier findest du Hilfe:
Frauenhelpline gegen Gewalt: 0800 222 555 / Beratung rund um die Uhr, anonym und kostenlos, 365 Tage im Jahr
Autonome Frauenhäuser Österreichs.
Zusammenschluss Österreichische Frauenhäuser: Ziel des Vereins ist es, die Unterstützung von gewaltbetroffenen Frauen und deren Kindern österreichweit voranzutreiben. Mitglieder des Vereins ZÖF sind die Frauenhäuser Wien (4 Frauenhäuser), Graz, Kapfenberg, Klagenfurt, Lavanttal, Spittal, St. Pölten und Villach.
Frauenhäuser Wien: Der Verein Wiener Frauenhäuser bietet misshandelten und bedrohten Frauen und ihren Kindern Schutz und Hilfe. Insgesamt stehen rund 175 Plätze für Frauen und Kinder zur Verfügung. Neben den Frauenhäusern betreibt der Verein auch eine ambulante Beratungsstelle. Die Beratungen sind anonym und kostenlos.
Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie: kostenlose und Vertrauliche Hilfe bei Gewalt an Frauen, familiärer Gewalt und Stalking
Rat auf Draht: Telefonnummer 147- die österreichische Notrufnummer für Kinder und Jugendliche.