Autisten nehmen ihre Umwelt anders wahr: Kommunikation ist ein Minenfeld, soziale Interaktionen sind oft unlogisch und Sinneseindrücke wirken wie ungefiltert auf das Gehirn einprasselnde Geschosse. Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist autistisch - ein nicht unerheblicher Teil dieser Menschen weiß davon jedoch nichts. Besonders bei Mädchen und Frauen wird die korrekte Diagnose erst spät gestellt, weil die Symptome mit Schüchternheit, Verschlossenheit und ähnlichen Charakterzügen verwechselt werden. Bei Marlies Hübner wurde die Diagnose Autismus im Alter von 27 Jahren gestellt. Endlich gab es eine Erklärung für ihr Anderssein! In ihrem Buch "Verstörungstheorien" beschreibt sie die autobiografische Lebensgeschichte einer jungen Autistin. Wir haben mit der jetzt 31-jährigen Deutschen über ihren Autismus, Routinen im Alltag und Beziehungen gesprochen.
WOMAN: Deine Kindheit war etwas anders, als die anderer. Erzähl uns davon!
Marlies Hübner: Ich war ein sehr stilles, überaus schüchternes und ängstliches Kind. Schon damals brauchte ich einen sehr geregelten Tagesablauf und war von neuen Situationen oder solchen, die anders liefen als geplant, sehr überfordert. Freundschaften zu schließen gelang mir nie, doch ich verbrachte ohnehin viel lieber Zeit allein und lesend.
WOMAN: Was passiert im Gehirn von Autisten und wie wirkt sich diese Andersartigkeit aus?
Marlies Hübner: Was Autisten von Nichtautisten unterscheidet ist die neurologische Grundvoraussetzung. Das Gehirn von Autisten ist etwas anders verdrahtet, was dazu führt, dass es in manchen Dingen anders funktioniert. So neigen Autisten zu einem logischeren, analytischeren Denken, pflegen oft Spezialinteressen, über die sie sich ausführliches Wissen aneignen und sind meist sehr organisiert und strukturiert. Autistische Menschen haben aber große Probleme damit, Sinnesreize zu filtern, ihr Gehirn ermüdet und überlastet schnell. Soziale Vorgänge und Gepflogenheiten sind in ihrem intuitiven Ablauf oft unverständlich. Das betrifft unter anderem den Aufbau und das Halten von Freundschaften und Beziehungen. Auch die Kommunikation ist kompliziert und eingeschränkt. Wir Autisten kommunizieren fast ausschließlich auf der Informationsebene. Subtext, Tonfall, sprachliche Feinheiten, Mimik, Gestik – all das ist wie eine unverständliche Fremdsprache.
WOMAN: Du merkst dir Gesichter anhand von Orten oder Tätigkeiten. Wie lange und gut musst du jemanden kennen, um sein Gesicht auch in anderen Zusammenhängen erkennen zu können wie erkennst du wenig Bekannte wieder?
Marlies Hübner: Das Gesicht kann ich mir gar nicht merken. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mir weder das meiner Mutter, noch das enger Freunde, ja nicht einmal das von Personen, die gerade vor mir stehen, ins Gedächtnis rufen.
Prosopagnosie (Gesichtserkennungsschwäche) lässt mich Gesichter überhaupt nicht erfassen. Ich erkenne jemanden tatsächlich nur an Frisur, Kleidung und möglichen Accessoires wie Schmuck, Bart und Brille wieder.

WOMAN: Vor 4 Jahren hast du offiziell erfahren, dass du Autistin bist. Was hat sich seither geändert?
Marlies Hübner: Ich bin froh, dass ich die Ursache meines Andersseins ausmachen konnte und auf dieser Basis meine Lebensqualität steigern konnte. Ich nehme nun viel mehr Rücksicht auf mich, passe mein Leben dort an, wo es schwierig ist und lerne mit Dingen umzugehen, die ich nicht ändern kann. Mein Umfeld war schon immer recht klein und ich reduzierte es bis auf die Menschen, für die es kein Problem war, dass ich anders kommuniziere, viel allein sein muss und nicht ständig Unternehmungen machen mag.
WOMAN: Hat sich der Autismus jemals negativ auf Beziehungen ausgewirkt?
Marlies Hübner: Als ich noch nicht wusste, dass es autistische Einschränkungen sind, die meine Schwierigkeiten in Sozialkontakten verursachen, gab es diese negativen Auswirkungen sehr oft, egal, ob bei Freundschaften oder romantischen Beziehungen. Oft waren es die Kommunikationsprobleme, an denen Freundschaften oder Beziehungen zerbrachen. Niemand äußerte klar seine Wünsche und Bedürfnisse und man verschanzte sich so lange hinter Schweigen, bis der Kontakt zerbrach. Mit dem Hintergrundwissen, dass eine klare, eindeutige und offene Kommunikation bei allen Beteiligten notwendig ist, ebenso wie die Akzeptanz der jeweils anderen Bedürfnisse, gelingt es mir leichter, dauerhaft Kontakte zu halten.
WOMAN: Wie nimmst du heute die Welt wahr?
Marlies Hübner: So wie alle anderen Menschen auch: Mit allen Sinnen. Nur im Vergleich mit neurotypischen Menschen ungefiltert, laut, grell und dadurch als sehr anstrengend.

WOMAN: Stimmt es eigentlich, dass Autisten gut mit Zahlen umgehen können?
Marlies Hübner: Nein, das ist ein Klischee, ebenso wie jenes, nach dem alle Autisten über eine sehr hohe oder wahlweise sehr niedrige Intelligenz verfügen. Sehr viele Autisten pflegen Spezialinteressen. Bei manchen sind es tatsächlich Zahlen oder die IT, bei anderen wieder Kunst, Literatur, Biologie, Technik oder was immer man sich denken kann. Die begrüßenswerte Möglichkeit für Autisten mit IT-Spezialinteresse, bei Firmen wie Auticon oder SAP Arbeit zu finden, stärkt diesen Eindruck.
WOMAN: Jetzt hast du ein Buch mit dem Titel „Verstörungstheorien“ geschrieben. Warum der Titel?
Marlies Hübner: Das ist eine kleine Spielerei. Zum einen verbringt man als AutistIn sehr viel Zeit damit, ziemlich verstört zu sein, vor allem, wenn man wieder daran scheitert, Nichtautisten verstehen zu wollen. Zum anderen ist er eine kleine Anspielung auf die teils lächerlichen, aber ausnahmslos falschen Verschwörungstheorien, die erklären wollen, wodurch Autismus entsteht. Impfungen zum Beispiel, Industriezucker, ein kühles Verhältnis zur Mutter oder Umweltgifte. Die Liste dieser Theorien ist sehr lang.
WOMAN: An wen wendet sich das Buch?
Marlies Hübner: Ich möchte Autisten, Angehörige und Menschen, die mit dem Thema noch nie etwas zu tun hatten, gleichermaßen ansprechen. Das Buch möchte nicht nur informieren, sondern auch unterhalten.
WOMAN: Hast du Tipps für Angehörige und Freunde von Autisten?
Marlies Hübner: Mir liegt am Herzen, dass man endlich aufhört für und über Autisten zu sprechen. Sprecht mit ihnen! Fragt sie, was sie möchten, wie man sie integrieren kann. Es sollte nicht Ziel sein, autistische Menschen zu zwingen, möglichst nichtautistisch zu wirken. Damit beraubt man sie ihres Wesens, ihrer Persönlichkeit und nimmt ihnen ihr Kompensationsverhalten – mit fatalen Folgen für den betroffenen Menschen.
Das Buch von Marlies Hübner "Verstörungstheorien - Die Memoiren einer Autistin, gefunden in der Badewanne" ist ab jetzt bei Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag um 14,99 Euro erhältlich.

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