14 Jahre lang hat Julia Schnizlein als Journalistin gearbeitet. "Ich habe in Heidelberg und Amsterdam zwar evangelische Theologie studiert, fühlte mich nach meinem Studium aber noch zu jung, um Pfarrerin zu werden." Sie absolvierte daher verschiedene Praktika im Deutschen Bundestag, im Bundespräsidialamt unter Bundespräsident Johannes Rau im Referat für Kirchen, Kultur und Medien sowie im ZDF in der Abteilung "History" unter Guido Knopp. Dabei hat sie gemerkt, wie viel Spaß ihr die Medienarbeit macht. "Also habe ich ein zweijähriges Aufbaustudium mit dem Titel 'Journalismus und Medienkompetenz' in Wien angehängt und arbeitete schließlich unter anderem für die Austria Presse Agentur "APA" und die Tageszeitung "Die Presse".
2017 dann der Wechsel: Schnizlein legte ihr Vikariat in der Lutherkirche in Wien ab. Seit September 2020 ist sie in der Lutherischen Stadtkirche im ersten Bezirk fix als Pfarrerin engagiert und lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in der Bundeshauptstadt.
WOMAN: Von der Journalistin zur Pfarrerin – ein ungewöhnlicher Branchenwechsel. Wie hat dein Umfeld auf deine berufliche Neuorientierung reagiert?
Schnizlein: "Sehr viel besser als erwartet. Ich war ja vorher viele Jahre in einem sehr säkularen Umfeld tätig. Mit dem Beruf der Pfarrerin verbinden viele Sinn, Tiefe, Echtheit. Und viele suchen in ihrem Leben gerade nach solchen Werten."
Die Kirche steht oft im Mittelpunkt von Kritik. Viele assoziieren mit Glauben und Religion weltfremde Lebensanschauungen und veraltete Meinungen. Was findest du selbst nicht mehr zeitgemäß?
"Ich glaube, dass das Bedürfnis nach Religion und Glauben ungebrochen hoch ist, nur stillen die Menschen dieses immer seltener in Kirchen. Wir schaffen es oft nicht, die Menschen in ihrer Lebensrealität abzuholen. Wir sprechen eine Sprache, die viele nicht mehr verstehen, singen Lieder, die kaum einer noch kennt, wirken distanziert und abgehoben. Ich finde es wichtig, vor allem in den Gottesdiensten noch mehr auf die Menschen und das, was sie brauchen, einzugehen, anstatt Fragen zu beantworten, die keiner stellt."
Was ist an der Kirche vielleicht sogar sehr fortschrittlich?
"Jesus Christus. Er war ein echter Revolutionär – in seinem Umgang mit Frauen, mit Kindern, mit Randgruppen. Leider hinkt seine Kirche dieser Fortschrittlichkeit manchmal etwas hinterher."
Seit wann ist Religion Social Media-tauglich?
"Religion und Glaube haben schon immer davon gelebt, dass sie weitererzählt wurden: mündlich, schriftlich, auf Flugblättern, in Liedern… Die Kommunikation des Evangeliums, also der Botschaft Christi, gehört zu den Kernaufgaben der Kirche und ich finde, dafür sollte man natürlich auch alle zur Verfügung stehenden Medien nutzen. Die Botschaft ist ja sensationell, daher ist sie auch Social Media tauglich. Wir müssen sie nur ordentlich ins Digitale 'übersetzen'."
Kirche und Feminismus: Geht sich das aus?
"Sogar gut. Denn die Bibel ist voll von starken Frauen und Vordenkerinnen. Leider wurden viele von ihnen von der patriarchal geprägten Kirche stigmatisiert oder verdrängt, wie zum Beispiel Maria Magdalena, die erste Apostelin. Jesus Christus hatte für die damalige Zeit ein sehr fortschrittliches Frauenbild – das sollte unser Vorbild sein."
Inwiefern?
"Bei ihm spielten Geschlecht, Status, Alter, Herkunft, usw. keine Rolle. Das war für das damalige Rollenverständnis revolutionär. Jesus machte eine Frau, Maria Magdalena, zur ersten Apostelin. Allerdings wurde sie, wie andere weibliche Vorbilder von Männern aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt und sogar - als angebliche Sünderin - sexuell stigmatisiert."
Wie politisch sind Sie?
"ChristInnen sind immer auch politisch, weil es unser Ziel sein sollte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Einem Ort, an dem Menschen friedlich auf Augenhöhe gemeinsam leben und weder Schöpfung noch Kreaturen ausbeuten. Die Theologin Dorothee Sölle hat mal gesagt: 'Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein.' Das sehe ich auch so. Glaube muss konkrete Konsequenzen haben."
Wann haben Sie an Ihrem Glauben gezweifelt?
"So oft, dass ich mich kaum erinnern kann. Glaube ist vergleichbar mit Liebe. Er verändert sich, er ist manchmal mehr manchmal weniger spürbar, manchmal beflügelt er und manchmal hadert man mit ihm."
Was unterschätzen viele in puncto Religion?
"Wie viel Segen, Gelassenheit und Trost sie für einen selbst bedeutet. Der Glaube ändert zwar nicht die Dinge, aber den Blick auf die Dinge."
Auf welche Sinnfrage haben Sie selbst noch keine Antwort gefunden?
"Warum es Leid gibt."
Hier noch ein paar große Fragen von uns an Sie: Darf man in Überfluss leben, während andere mit Armut zu kämpfen haben?
"Die meisten Westeuropäer tun das. Und ich denke, man darf und soll das Leben auch genießen. Schließlich ist es ein großes Geschenk! Wichtig ist es aber auch, die Augen vor Leid, Verzweiflung, Armut und Hunger nicht zu verschließen. Wir sollten uns bewusst sein, dass unser Überfluss nicht selbstverständlich ist, dass oft andere den Preis dafür zahlen und wir sollten daran mithelfen, die Welt für alle zu einem besseren Ort zu machen. So verstehe ich Gottes Auftrag an uns."
Muss man immer ein guter Mensch sein?
"Man sollte immer bei sich selbst anfangen. Auch mit dem Gutsein. Es gibt eine Richtschnur für die Frage, was gut und richtig ist. Sie liegt in der sogenannten Goldenen Regel: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu." Und Immanuel Kant hat dieses Prinzip in seinem kategorischen Imperativ noch um die Formel erweitert: "Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz wird." Bei allem, was wir tun oder lassen, sollen wir uns also die Frage stellen: 'Wäre es gut, wenn sich alle Menschen immer und überall so verhalten würden, wie ich?' Können wir die Frage mit Ja beantworten hat diese Maxime den Test bestanden."
Worauf kommt es im Leben wirklich an?
"Ich halte mich dabei an Albert Schweitzer: 'Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen.'"