Kohlenhydrate wurden nach dem Anti-Fett-Trend aus den 80er Jahren das neue Mobbingopfer der Medienlandschaft. Viele sprangen auf den Low Carb- und Keto-Zug auf und hofften, dass sie dieser nun wirklich endlich zum Jungbrunnen bringt. Dieser Artikel ist eine ernährungswissenschaftliche Odé an all das, was Kohlenhydrate für dich tun.
1. Glückshormonstoffwechsel
Es ist kein Zufall, dass wir uns bei Traurigkeit oder depressiver Verstimmung an Lebensmittel wenden, die sowohl Eiweiß-, als auch Kohlenhydratanteile haben: zum Beispiel Eiscreme, Schokolade und Co. Die Produktion von Serotonin ist auf beides angewiesen. Eiweiß liefert die Aminosäure Tryptophan, was der Baustoff für das Glückshormon ist. Er kann aber nur dann ins Hirn, wenn es den Transporter Insulin gibt, das von der Bauspeicheldrüse produziert wird, wenn wir Kohlenhydrate essen. Keine Kohlenhydrate = kein Tryptophan-Transporter = gestörter Glückshormonstoffwechsel.
2. Energielieferant
Dein Hirn kann Energie ausschließlich aus Kohlenhydraten beziehen. Oft wird hier betont, dass Kohlenhydrate nicht "essentiell" sind – das ist ein Begriff aus der Ernährungswissenschaft, der beschreibt, ob der Körper auf die Zufuhr von außen angewiesen ist oder den Stoff selbst produzieren kann. Es stimmt, dass der Körper Kohlenhydrate selbst produzieren kann. "Nicht essentiell" ist aber kein Synonym für optimal. Die Umwandlung geht meistens auf Kosten der Muskelmasse (auch bei ausreichender Eiweißzufuhr und Bewegung). Der Körper tut das nicht aus Idealität, sondern weil das Hirn sonst absterben würde. Es ist die allerletzte Notlösung, die vor dem Tod bewahrt und nicht etwas, das man anstreben sollte.
3. Verdauung
Hier noch einmal zusammengefasst, warum Ballaststoffe gut für uns sind:
- Verlängerung der Kautätigkeit = langsameres Essen
- Schnelleres Sättigungsgefühl durch Aufquellen im Magen
- Länger anhaltendes Sättigungsgefühl durch vermehrten Verdauungsbedarf im Magen
- Schnellere Transitzeit durch den Darm wegen erhöhtem Volumen = regelmäßigere Verdauung und Vorbeugung von Verstopfung
- Bindung von Gallensäure
- Natürlicher Cholesterinsenker
Eine Ernährung, die arm an Kohlenhydraten ist, ist meistens auch arm an Ballaststoffen.
4. Mikrobiom und Darmgesundheit
Mikrobiom und Darmgesundheit sind zwei Themen, die derzeit großes öffentliches und wissenschaftliches Interesse genießen. Ein gesundes Mikrobiom dient beispielsweise als Teil des Immunsystems – es bildet eine Barriere im Dickdarm und verhindert dadurch, dass Krankheitserreger vom Körper aufgenommen werden. Was ein Mikrobiom gesund macht, ist einerseits eine hohe Quantität, und andererseits eine hohe Diversität gesunder Darmbakterien. Dieses kleine schützende Darmvolk kann sich ausschließlich von unterschiedlichen Ballaststoffquellen ernähren. Eine Ernährung, die vor allem aus Eiweiß und Fett besteht, lässt das Mikrobiom verarmen.
5. Physiologischer Heißhunger
Viele Anhänger*innen des Fastens und der Low-carb / Keto-Ernährung denken, dass ihr Heißhunger auf Kohlenhydrate an einer Zuckersucht oder schwachen Willenskraft liegt. Wie vorher beschrieben gibt es Zellen in unserem Körper, die auf Kohlenhydrate angewiesen sind. Aus diesem Grund haben wir Hormone, die die regelmäßige Zufuhr sichern sollen: beispielsweise das Neuropeptid Y (NPY). Fasten wir länger oder verzichten wir auf Kohlenhydrate, steigt das NPY stark an. Es erzeugt großen Heißhunger auf Kohlenhydrate und triggert den Mengen-Kontrollverlust, um die Versorgung der Zellen zu sichern. Isst du regelmäßig und ausreichend Kohlenhydrate, wird der NPY-bedingte Heißhunger vermieden.
6. Verbotenes wird interessant
Jede Regel untergräbt unterbewusst die eigene Autonomie. Bei Kindern ist dies leicht zu beobachten: Verbotenes wird plötzlich besonders interessant. Aber auch Erwachsene sind von diesem Phänomen betroffen. Psychologischer Heißhunger entsteht, wenn deine innere, rebellische Teenagerin ihr Comeback feiert. Dieses Comeback versteht sich als Lebensmittel-Orgie, zur Demonstration deiner Autonomie, bei der du alles isst, was du dir verboten hast. Bei angenehmer Sättigung kannst du nicht aufhören zu essen, denn dein Unterbewusstsein weiß genau, dass das eine seltene Gelegenheit ist. Wenn du dir jederzeit alles erlaubst, wirst du sehr bald sehen, dass der Gewohnheitseffekt den Reiz und die Magie aller verbotenen Lebensmittel nimmt. Nur so schaffst du es, dass Schokolade denselben emotionalen Wert bekommt wie Brokkoli.
7. Schutz vor Weight-Cycling
Meistens haben wir kein Problem damit, schnell Gewicht zu reduzieren. Schwierig ist für viele, das Gewicht zu halten. Wenn du auf Lebensmittel verzichtest, die dich eigentlich glücklich machen oder die dein Körper zum Überleben braucht, kann das niemals nachhaltig sein. Weight-Cycling ist der Fachbegriff für andauernde Ab- und Zunahme durch Gewichtsmanagement-Versuche. Er umfasst den vom Körpergewicht unabhängigen Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse, Entzündungen, hohen Blutdruck und Insulinresistenz*. Das Essen von Kohlenhydraten schützt dich vor dem Low-carb / Keto-Weight-Cycling.
8. Umwelt-, Klima- und Tierschutz
Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie sich die Landwirtschaft ändern müsste, wenn sich alle Menschen Low-carb oder ketogen ernähren würden? Wir bräuchten noch mehr Anbauflächen, um die Tiere durchfüttern zu können und Wasser würde verschwendet werden. Die Nachfrage nach tierischen Lebensmitteln lässt bereits jetzt Großteils keine würdevolle Haltung mehr zu.
Ketogene, vegane Ernährung wäre eine derartige zusätzliche Einschränkung, die definitiv ein gestörtes Essverhalten darstellt und somit ein großes Risiko für deine psychische und physische Gesundheit.
Anhänger*innen der Low Carb- oder Keto-Ernährung würden wahrscheinlich argumentieren, dass es sehr wohl kohlenhydratarme Ballaststoffquellen gibt: Avocado, Pekanüsse, Mandeln, Kokosnuss. Wie du merkst, sind diese Empfehlungen in Bezug auf unser Klima sehr bedenklich. Das Essen von Kohlenhydraten ist in jedem Fall ein aktiver Beitrag für Umwelt-, Klima- und Tierschutz.
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Isabel Bersenkowitsch ist eine Anti-Diät-Diätologin aus Pasching (Oberösterreich) und lebt in Wien. Sie hat an der FH Campus Wien Diätologie studiert, war danach in einem Rehazentrum tätig und macht sich gerade mit einem multiprofessionellen Food Freedom Gruppencoaching selbstständig. Die Diätologin hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen zu einer intuitiveren Ernährungsweise zurückzuführen. Für WOMAN schreibt sie wöchentlich Gastkommentare über Essstörungen, Diät-Trends und den Zusammenhang zwischen Psyche und Ernährung.
*(Bacon & Aphramor, 2011)