Keine Schule oder Ausbildungsstätte könnte sich erlauben, was sich das Leben erlaubt", da ist sich Psychotherapeut Holger Kuntze sicher. Denn: Ohne Vorbereitung werden wir mit Schmerz, Angst und Verzweiflung konfrontiert, ohne Vorwarnung plötzlich aus unserem gewohnten Alltag gerissen. "Es gibt Momente, die anstrengend sind, die uns verzweifeln lassen, und Erfahrungen, auf die wir gern verzichten würden", so Kuntze. Ausweichen? Geht nicht! Der Krisencoach, der in Berlin lebt und arbeitet, weiß aber auch, wie man mit solchen ausweglos scheinenden Dilemmas umgehen soll. Sein Know-how aus jahrelanger Praxiserfahrung hat er in seinem neuen Buch zusammengefasst: "Das Leben ist einfach, wenn du verstehst, warum es so schwierig ist" (Kösel Verlag, € 17,66), verspricht er darin. Da sind wir natürlich neugierig geworden.
Herausforderungen erschüttern jeden Alltag von Zeit zu Zeit. Jeder denkt sich immer wieder mal: Ich kann nicht mehr! Der Experte hat einige Tipps parat, die helfen sollen, wenn unser Leben ins Wanken gerät. Er erklärt, wie wir unsere Denkmuster in Krisensituationen austricksen können und warum die Erfahrung ebendieser auch positiv ist. Das Wort Corona kommt im gesamten Buch übrigens kein einziges Mal vor.
Anerkennen, was ist: Jede Krise braucht ihre Zeit.
In Krisensituationen wollen wir nur eines - raus da! Und schnell eine Lösung finden. "Ein Fehler", wie Holger Kuntze findet. "Die meisten möchten sofort in die Veränderung gehen, das gelingt aber nicht und lässt uns in tiefe Löcher fallen. Deshalb ist es so unfassbar wichtig, die Normalität einer Krise zu begreifen." Das Leben ist einfach anstrengend, das ist seiner Meinung nach das wichtigste Learning. Auch wenn uns manche anderes vorgaukeln wollen. Da nütze es nichts, auch noch sauer auf sich zu sein, wenn es mal nicht so läuft.
Das Anerkennen der Krise als Teil des Lebens ist essenziell. Und "dass sie aus psychologischen, neurologischen und physiologischen Gründen einen hohen Grad an Regelhaftigkeit hat. Viele wollen hingegen, dass negative Gedanken und Emotionen sofort verschwinden - das ist kontraproduktiv, denn genau diese brauchen wir, um eine schwierige Situation zu überwinden." Wichtig, so der Psychologische Berater: "Verwechseln Sie eine Krise nicht mit einem Problem. Wir haben viele Lösungskompetenzen entwickelt, weil wir im Alter zwischen 15 und 35 ständig mit kleinen Herausforderungen konfrontiert sind: Mit wem will ich zusammen sein? Welche Ausbildung mache ich? Und so weiter. Das führt uns mit den Jahren aber auch zur unsinnigen Ansicht, man habe auf alle Fragen des Lebens eine Antwort. Das ist aber nicht so und in der Komplexität des Daseins gar nicht möglich." Schuld daran ist seiner Meinung nach auch die weithin verbreitete Annahme, dass wir alles haben können, alles ein Spaß sei: "Dann ist man enttäuscht, wenn es anstrengend wird, doch in diesen Phasen ist viel Platz für Wachstum und für positive Veränderung." Eine Krise ist eine große, schmerzhafte, unangenehme Erfahrung, aber sie ist nichts Schlechtes. Wir müssen akzeptieren: "Ich werde darauf in den nächsten Tagen keine spontane Antwort finden." Dagegen steht jedoch die Erkenntnis, dass "ich es trotz Angst und Schmerzen schaffe, aufzustehen, selbst wenn es anstrengend ist. Und das ist das Wesentliche für die Überwindung der Krise: zuversichtlich jeden Tag seine Dinge machen, im Wissen, dass man in den nächsten Wochen und Monaten eine Antwort findet", weiß Kuntze. Er plädiert für eine neue Haltung der Krise gegenüber. Und geht sogar so weit, zu sagen, dass ein Leben ohne sie nicht vorstellbar ist -ja, vielleicht gar nicht sinnvoll. Auch die aktuelle Lage erlebt der Psychotherapeut aus diesem Blickwinkel.

Im Kopf flexibel bleiben.
"Ich habe keine empirischen Daten dazu, aber ich sehe bei Klienten, die schon länger zu mir kommen, dass viele von ihnen diese Krise als Erleichterung empfinden", so Kuntze. "Weil bestimmte äußere Zumutungen wie Reisen, Stress und soziale Verpflichtungen wegfallen. Es gibt aber einen anderen Teil, der die aktuelle Zeit als enormen Einschnitt in die persönliche Lebensqualität empfindet." Egal zu welcher Kategorie man gehört: Der Experte ist davon überzeugt, dass wir vor allem durch Corona gelernt haben, dass wir psychologisch flexible Wesen sind. Das sei eine Chance für die Post-Pandemie-Zeit: "Kein Mensch möchte im aktuellen Zustand weiterleben, das ist klar. Trotzdem können wir daraus lernen, dass wir uns auf neue Situationen einstellen können."
Aber, so der Psychotherapeut, man muss nichts schönreden: "Wir müssen nicht an allem etwas Tolles finden. Im Gegenteil: Wir müssen akzeptieren, wenn etwas gerade schlecht ist. Und gleichzeitig schauen, wie man wieder in höheren Einklang mit seinen Werten kommt."
Aushalten, auch wenn es weh tut.
Warum reagieren wir so oft falsch in Krisensituationen? Kuntze hat eine logische Erklärung parat: "Psychischer Schmerz lässt sich von physiologischem nicht unterscheiden, wir haben im Gehirn ja nur ein Schmerzzentrum. Das war ursprünglich, vor vielen Tausenden Jahren, nur auf körperlichen Schmerz ausgelegt. Damals war nicht abzusehen, dass wir auch mal aus Liebe oder anderen Gründen Schmerzen empfinden werden." Wenn wir jetzt also etwas Schlechtes erfahren, ist es eine intuitive Körperreaktion, diese Situation überwinden zu wollen. Der Krisencoach verweist in diesem Zusammenhang auf ein Kapitel aus seinem Buch. Vokabeltest nennt sich diese Übung. Darin führt er 20 Begriffspaare an, die es zu unterscheiden gilt. Was das bringen soll? "Worte helfen uns besser zu verstehen und zu stabilisieren. Einen Unterschied in uns selbst zu initiieren." Ein Beispiel dafür: Leibwächter und Lebenswächter.
HInschauen, wo es schmerzt.
In Krisensituationen verpflichten wir uns unserem Leibwächter. Er will, dass es uns schnell wieder gut geht. Wir sind genervt von der Arbeit oder dem Kontostand und vermeiden dieses Thema: "Das ist eine intuitive Reaktion. Man geht nicht dorthin, wo es wehtut. Wir entziehen uns der Situation." Nicht nur wir selbst reagieren nach diesem System, auch unsere Familie, Freunde tun es: "Weil sie unser Leid nicht ertragen, wollen sie uns da herausholen. Die sofortige Flucht ist aber meistens nicht zielführend, deshalb haben wir eine zweite innerliche Instanz, unseren Lebenswächter, der versichert:,Ja, es ist gerade nicht gut, aber ich werde diesen Konflikt in den nächsten Monaten überwinden. Ich bin zuversichtlich, dass die Qualität unserer Familie/Liebe/Freundschaft wichtiger ist als der Umstand, dass wir uns jetzt gerade streiten.'" Kuntze erklärt weiter: "Wenn wir uns in diesem Moment unserem Leibwächter verpflichten, der immer nur will, dass es uns möglichst schnell besser geht, verpassen wir die Chance auf Wachstum, die wir bekommen, wenn wir uns mit schmerzhaften Krisen auseinandersetzen. Deshalb ist mein Wunsch für die Menschen, dass sie immer wieder mittlere Krisenerfahrungen machen, um zu lernen, sich selbst dabei zu beobachten, wie sie Antworten auf wichtige Fragen ihres Lebens finden." Der Therapeut ist davon überzeugt: "Eine Krise ist etwas Sinnvolles. Sie lässt uns in den Spiegel schauen, flexibler und größer werden."
Selbst entscheiden, wie wir reagieren.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse im Zusammenhang mit persönlichen Herausforderungen ist, zu erkennen, wie man darauf reagiert. Hier nennt der Psychotherapeut drei Ich-Zustände, die es zu kennen gilt: Kinder-Ich, Erwachsenen-Ich und Eltern-Ich. Die drei Bezeichnungen stehen dabei für bestimmte Eigenschaften, die wir alle permanent in uns haben: "Manchmal wechseln wir von Minute zu Minute unsere inneren Ich-Zustände. Sie konkurrieren laufend um unsere Aufmerksamkeit. Allein damit sind wir im täglichen Leben schon gefordert, weil wir ständig innerlich entscheiden müssen, welchem Ich-Anteil wir gerade die Kontrolle für die jeweilige Situation übergeben", analysiert Kuntze. Meist passiert das, klar, unbewusst. Der lauteste Ich-Anteil übernimmt einfach. Dabei wäre es wichtig, sich die drei Charaktere einmal genauer anzuschauen: "Wer das tut, wird feststellen, dass jeder Ich-Zustand eine positive und eine negative Variante hat. Ziel ist es, ein eigenes Bewusstsein dafür zu entwickeln und in der Krise entscheiden zu können, welchem Ich man dann das Lenkrad übergeben möchte."
Wer navigiert mich am besten aus den Problemen?
Wem erst einmal bewusst ist, dass wir aus verschiedenen Haltungen heraus agieren können, dem eröffnet sich plötzlich eine Vielzahl an Handlungsräumen. Kuntze rät, immer zu hinterfragen: Wer wäre ich, wenn ich im positiven Erwachsenen-Ich (analytisch, kompromissfähig, zielbewusst) reagiere anstatt zum Beispiel im negativen Kinder-Ich (hilflos, abhängig, trotzig). Oder in einer anderen Situation im positiven Eltern-Ich (fürsorglich, loyal, empathisch) anstatt im negativen Erwachsenen-Ich (zweifelnd, rechthaberisch, zögerlich). "Das Wissen, dass wir das selbst in der Hand haben, wird für viele LeserInnen wahnsinnig augenöffnend sein, weil die meisten so noch nie über ihr Leben und die Funktionsweise ihres Gehirns nachgedacht haben", meint Kuntze.
Da liegt ein Gedanke nahe: Kann man sich für besonders herausfordernde Zeiten unter Umständen sogar wappnen? Die eigene Resilienz trainieren, um dann, wenn es darauf ankommt, besser damit umgehen zu können? "Sie können sich vorbereiten, indem Sie durchs Leben gehen und dabei davon ausgehen, dass Krisen eintreten können. Was auch hilft: Dinge initiieren, die uns in Krisenzeiten stabilisieren, also eine sinnvolle Arbeit, Freunde."
Wenn wir da gut aufgestellt sind, hat keine Krise die Macht, uns in allen Lebensbereichen anzugreifen. "Der Mensch neigt ja zum Katastrophendenken. Wenn man eine gesundheitliche, berufliche oder auch private Krise hat, scheint im ersten Moment gleich alles sinnlos. Das Tortenstück wird mit der gesamten Bäckerei verwechselt. Da muss man sich dann erst einmal bewusst runterholen und darauf aufmerksam machen, dass man in den restlichen Lebensbereichen weiterhin gut aufgestellt ist."
Die persönliche Ohnmacht austricksen.
Das Wesen der Krise ist die Ohnmacht, erklärt Kuntze. Wer jedoch ein paar einfache Verhaltensregeln beachtet, kann die umgehen -nämlich durch eine Unterbrechung. "Wer in Denk-und Grübelschleifen, in Katastrophen-und Versagensdenken festhängt, kann trotzdem sein Alltagsverhalten regulieren." Heißt: Auf Ernährung, Schlaf, Tagesroutinen achten. "Wenn wir Ursache und Auswirkung der Krise schon nicht in der Hand haben, empfehle ich als Therapeut meinen Klienten Geschirrspülen, Staubsaugen, Bücher sortieren oder Ähnliches. Das klingt im ersten Moment banal, trickst aber unser inneres System aus. Es zeigt mir, dass ich selbstwirksam agieren kann, und hat positive Auswirkungen auf meine Selbstwahrnehmung und innere Ruhe. Alltagsverhalten zu verändern, ist in einem ersten Schritt wichtig, weil man ein unmittelbares Erfolgserlebnis hat. Für komplexe Krisen braucht es nicht unbedingt komplexe Lösungen, die können auch einfach sein. Oft ist der erste Schritt in Richtung Bewältigung eben ein kleiner. Wenn ich wüsste, dass jemand nur vier Seiten aus meinem Buch lesen kann, dann würde ich auf die Notfallinterventionen verweisen (siehe Kasten S. 59), weil sie vor Augen führen, dass wir Herr und Herrin unseres Lebens sind."
Nicht nur im Hier und Jetzt leben, sondern genauso das Gestern und Morgen feiern…
… auch das möchte der Autor seinen LeserInnen mitgeben. Dafür hat Kuntze wieder einen bildlichen Vergleich, der helfen soll, besser durch herausfordernde Zeiten zu kommen: "Verlassen Sie die Maulwurfperspektive, nehmen Sie den Blickwinkel eines Adlers ein. So sehen Sie, dass es ein Gestern und Morgen gibt. Sich vor Augen zu führen, was man schon alles erlebt hat, motiviert und gibt Kraft."
Und letzten Endes, das weiß Holger Kuntze mit Sicherheit, haben alle Krisen eines gemeinsam: Sie vergehen.