Es sind zwei Welten, zwischen denen ihre Gedanken schweben. Rasha Corti lebt seit neun Jahren in Wien. 2009 ist die gebürtige Syrerin mit ihrem Mann Sebastian Corti (World Vision Geschäftsführer und Sohn von Cecily Corti, VinziRast-Obfrau, Anm.) und den Kindern Eleonore, 10, und Anna-Cecilia, 9, hierher gezogen, Thaddea, 6, kam schon in Österreich zur Welt. Bei ihrem Umzug war Damaskus, wo die Familie zwei Jahre lang gelebt hatte, eine lebendige, fortschrittliche Stadt. Bis 2011 der Bürgerkrieg begann und plötzlich Explosionen und Terror das Stadtbild erschütterten.
"Das Land, das ich damals verlassen habe, werde ich nie wieder sehen. Zumindest nicht bald. Die zerstörten Gebäude kann man wieder errichten, aber die Leute, die dort gearbeitet haben, sind nicht mehr da. Sie leben jetzt in Australien oder Europa. Du gehst durch dein Viertel, doch die Menschen, die dich von klein auf gekannt haben, sind weg. So viele schöne Momente habe ich im alten Souq von Aleppo verbracht, heute ist der Großteil davon kaputt", erinnert sich die 35-Jährige.
Als sie 2013 ihre Heimat besuchte, herrschte schon Ausnahmezustand. Seitdem hatte die dreifache Mutter mit ihren Eltern nur noch über Anrufe, WhatsApp und Handy-Nachrichten Kontakt. Zwei ihrer Brüder sind mittlerweile geflüchtet. Einer nach Deutschland, der andere nach Schweden: "Ich war anfangs dagegen. Weil wir Leute brauchen, die unser Land wieder auf bauen. Aber der IS rekrutierte junge Männer, das war lebensgefährlich. Es war eine schwierige Entscheidung zwischen Tod oder Leben! Stirbst du dort oder vielleicht auf der Flucht am Meer? Bei Letzterem hast du zumindest die Chance auf ein besseres Leben." 2016 holte sie auch ihre jüngere Schwester nach Österreich. Nach ihrem Studium soll sie aber zurückgehen. "Wir brauchen gut gebildete Leute, sie sind die Zukunft Syriens."
JÄNNER 2018: WIEDERSEHEN IN SYRIEN.
Wir treffen Rasha in ihrer Wiener Wohnung. Es gibt Ingwertee, und am Tisch hat die Fremdenführerin eine Box mit syrischen Süßigkeiten aufgestellt: "Die habe ich vor meiner Abreise noch schnell gekauft." Vor zwei Monaten war sie in ihrer Heimat Syrien unterwegs. Zwei Wochen lang besuchte sie die Plätze, an denen sie aufgewachsen ist. Von Beirut, der Hauptstadt des Libanon, fuhr sie mit einem Taxi drei Stunden nach Damaskus: "An der Grenze hat man meine Ausweise kontrolliert. Sonst verlief die Einreise unkompliziert.

Am Checkpoint in Syrien wurde ich dann gefragt, ob ich Waffen bei mir habe." In Damaskus besuchte Rasha ihre Mutter und eine jüngere Schwester. Nach dem emotionalen Treffen ging es einige Tage später weiter nach Raqqa - über Umleitungen und an vielen Checkpoints vorbei. In Raqqa lebt ihr Vater, hier hat Rasha ihre Kindheit verbracht. 2011 wurde die Stadt im Norden Syriens vom IS vereinnahmt und zur Terror-Hochburg gemacht. "Ich wollte meinen Vater unbedingt wiedersehen. Wissen, wie es ihm geht, wie ihn der Krieg verändert hat. Mit meiner Mutter habe ich fast täglich Kontakt, aber mein Vater war mitten unter den Bomben. Um Handyempfang oder Internetzugang zu haben, muss er mit dem Motorrad 20 Kilometer fahren", erzählt Rasha.
"Meine Geschwister und ich haben ihn tausendmal gebeten, dass er doch in die Türkei flüchten soll. Oder nach Damaskus. Aber er wollte zu Hause bleiben, und das Problem war, dass die Bewohner von Raqqa das IS-Gebiet lange nicht verlassen durften." Erst seit Oktober 2017 ist die Stadt wieder frei. Der Vater - Rashas Eltern leben getrennt - hat alles verloren: Zusammen mit seinem Bruder leitete er drei Krankenhäuser. Übrig geblieben sind die Trümmer davon. Ausgeraubt, niedergebombt, zerstört: "Auch das Haus meines Vaters gleicht eher einem Haufen Steine. Der Krieg hat ihn gezeichnet. Früher trug er Anzug und Krawatte, jetzt arbeitet er als Ackerbauer."
Rasha scrollt durch ihre Handyaufnahmen, während sie von den Erlebnissen vor Ort erzählt. Da ist ein Foto zusammen mit ihrem Vater, die Hände haben sie fest ineinander verankert: "Drei Tage lang haben wir uns einfach nur so gehalten." Panik vor Anschlägen hatte sie während der Tour nie, beteuert sie. Es war vielmehr Angst vor den Bildern, die sie in ihrer alten Heimat erwarteten: "Die Zerstörung, die der Krieg hinterlassen hat, hat mich extrem belastet. Man geht auf der Straße und versteht es einfach nicht: Wie konnte das passieren? Die Gebäude - alle kaputt, die Häuser schwarz, die Autos verbrannt. Man versteht es einfach nicht."
DER KRIEG IST ZUM ALLTAG GEWORDEN.
Rasha erzählt von einer Bombe, die in ihrer Nähe explodierte: "Meine Mutter fragte mich, ob ich die Explosion nicht gehört hätte. Ich verneinte. Damit war das Thema abgehakt. Währenddessen packten wir unsere Sachen für die weitere Reise. Die Leute machen weiter. Sie sperren sich nicht ein." In Aleppo hat die Tourismus-Managerin einen Freund getroffen - früher war er mit seiner Firma in der Ölindustrie erfolgreich. Durch die Auseinandersetzungen hat er mehrere Millionen Dollar verloren."Trotzdem ist er ambitioniert, noch einmal von vorn anzufangen. Vielleicht wird er nicht das Gleiche verdienen wie davor, aber er startet jetzt.

Es gab eine riesige Welle der Verwüstung, nun ist die Zeit des Wiederaufbaus. Die ersten Samen werden schon dafür gesät. Ich sehe das total pragmatisch. Diese nüchterne Art hat mir wahrscheinlich auch geholfen, die lange Ungewissheit über meine Heimat zu verarbeiten", sagt die Wahlwienerin. "Tausende Menschen mussten sterben oder wurden verhaftet. Was in wenigen Teilen von Syrien noch immer passiert, ist schrecklich. Wer im Recht ist und wer nicht, ist egal! Al-Assad oder al-Quaida? Egal. Am Ende herrscht Krieg. Der hat viele zu Monstern gemacht. Da gibt es nur Opfer, keine Sieger. Wir sind alle Menschen."
Diejenigen, die im Land geblieben sind, haben sich verändert. Die Menschen sind härter und trauriger geworden: "Jede Familie hat jemanden im Krieg verloren und furchtbare Geschichten zu erzählen. Drei Cousins von mir wurden geköpft. Dem Sohn meiner Cousine Nesrin wurde in der Schule von IS-Kämpfern beigebracht, wie man Menschen abschlachtet. Er ist zwölf." Und traumatisiert. Seitdem verfolgt ihn ein Albtraum. Er träumt, dass ihn "die Männer mit den langen Bärten" zwingen wollen, seine Mutter zu schlachten. Wird er jemals ein normales Leben führen können? Wie sieht seine Zukunft aus? Darauf hat niemand Antworten: "Es ist eine kaputte Generation. Die schrecklichen Erfahrungen, die sie gemacht haben, werden sie wahrscheinlich für immer verfolgen."
Die 35-Jährige hat viele Trümmer gesehen, aber auch die ersten Schritte in Richtung Neuanfang beobachtet: "Man kann nicht sagen: ,Weg mit al-Assad!' Er ist Teil des Problems, man muss mit ihm an einer Lösung arbeiten." Und schießt dann pragmatisch-sarkastisch nach: "Außer er bekommt einen Herzinfarkt." Ihre Hoffnung ist jedenfalls ungebrochen: "Ich träume von einem neuen Syrien. Die Leute sehen die Bilder im Fernsehen und denken, dass es ganz furchtbar ist. Aber Syrien ist prachtvoll. Auch jetzt. Da ist viel Trauer und Gewalt, doch die Leute lächeln noch. Da ist noch nicht alles weg. Es gibt auch viel Gutes. Daran müssen wir uns festhalten." Die Gegensätze sind extrem. "Es ist so absurd. Unglaublich, Krieg ist unfassbar", sagt sie immer wieder und schüttelt dabei den Kopf. Während ihres Aufenthalts in Syrien ist ihr nicht nur Zerstörung aufgefallen, sie hat auch gefeiert: "Meine Schwester und ich sind oft bis vier in der Früh ausgegangen. Da gibt es Bars, die haben gerade erst aufgesperrt, aber es gibt sie. Dort wird Party gemacht, als gäbe es kein Morgen. Das große Leid ist der Grund für diese Extreme. In diesem Land ist viel Blut geflossen - es wird gefeiert, weil ungewiss ist, ob man den nächsten Tag erlebt."

WELCHEN BEITRAG KANN ICH LEISTEN?
Die Unternehmerin engagiert sich für den Integrationsfonds. Sie berät in Themen Gleichberechtigung und Arbeitsmarkt. Und begleitete Flüchtlinge zum Sozialamt, AMS, unterstützte bei bürokratischen Wegen. Kritisch sieht sie deshalb den Umgang mit der Flüchtlingswelle 2015: "Man hätte die Leute viel mehr kontrollieren müssen. Wir wissen nicht, wer gekommen ist und was ihre Geschichte ist. Viele fühlen sich bis heute fremd hier, es wäre besser, sie mit einer Starthilfe zurück in ihr Land zu schicken." Darüber hinaus will sich Rasha aber auch in Syrien vor Ort einsetzen: "Ich habe oft überlegt, welchen Beitrag ich für eine bessere Zukunft leisten kann, und ich habe da eine verrückte Idee. Aber so fängt es immer an. Als ich nach Raqqa gefahren bin, haben mich anfangs auch alle gefragt, ob ich verrückt bin. Es sei viel zu gefährlich dort, vor allem für Frauen."
Ihre Vorstellung: eine Bewegung, die Frauenrechte stärkt. Sie will ihren Geschlechtsgenossinnen endlich eine Stimme geben: "Mein Traum ist, dass Frauen in Syrien die gleichen Rechte haben wie Männer. Und dass das Gesetz getrennt von der Religion behandelt wird. Wir haben so viele starke, gebildete Frauen, aber sie kommen schwer durch, weil alles von Männern dominiert wird. Sie sitzen zu Hause und machen Hummus und Tabbouleh-Salat." Genauso nimmt Rasha Corti aber auch die Politiker in die Pflicht: "Was in Syrien passiert, liegt gerade einmal dreieinhalb Flugstunden von Österreich entfernt. Trotzdem verstecken sich alle immer hinter den Amerikanern. Das ist lächerlich. Warten die Europäer auf den nächsten Tweet von Trump und was er sagt? Wir müssen einen Friedensdiskurs starten, selbstständig entscheiden und die Syrer vor Ort unterstützen. Wenn mein Mann und meine Familie dabei wären, würde ich sofort nach Syrien ziehen und mitanpacken."
RASHA CORTI: KURZBIOGRAFIE
1982 wurde Rasha Corti im Norden Syriens, in Raqqa, geboren. Danach studierte sie in Aleppo Englische Literatur. Während eines Studienaufenthalts in Ägypten lernte sie ihren späteren Mann, Sebastian Corti, kennen. Zusammen lebten sie von 2007 bis 2009 in Damaskus, wo die 35-Jährige für das französische Kulturzentrum arbeitete und unter anderem diverse Dokumentarfilme organisierte. 2009: Umzug nach Wien, zusammen mit ihren Töchtern, Eleonore, 10, und Anna-Cecilia, 9. Nachzüglerin Thaddea kam hier drei Jahre später auf die Welt. In Österreich machte sich die dreifache Mutter 2015 selbstständig als Fremdenführerin. Außerdem engagiert sie sich auch mit verschiedenen Projekten als Helferin für den Österreichischen Integrationsfonds.

Kommentare