Treue kann auch darin bestehen, dass man den anderen in Not nicht im Stich lässt oder ihn niemals durch einen temporären Geliebten ersetzt, macht Robert Pfaller, österreichischer Philosoph, sein entspanntes Verhältnis zum Thema Seitensprung schnell klar. Im Interview mit WOMAN wundert sich der Buchautor (Zwei Welten. Und andere Lebenselixiere, Fischer Verlag) über unerbittliche Treuekriterien, die tyrannische Vorstellung, alles mit dem Liebsten teilen zu müssen und den Hype um Facebook als Betrugsvermittler.
WOMAN: Erklären Sie uns doch mal: Wo beginnt Fremdgehen?
Pfaller: Das Wort allein verrät wenig über eine Handlung, aber viel über die Erwartung, die wir an unser Beziehungsleben herantragen. Man kann einander ja auch lieben, ohne einander sexuelle Ausschließlichkeit versprochen zu haben. Auffällig scheint mir, dass sich die Vorstellungen von der Zweierpartnerschaft seit der sexuellen Revolution von 1968 keineswegs gelockert, sondern eher verfestigt haben. Viele beklagen heute Fremdgehen, wo unsere Eltern oder Großeltern nur milde gelächelt oder vornehm geschwiegen haben.
WOMAN: Das Beziehungskorsett ist also enger geworden?
Pfaller: Es gibt hier drei Ebenen der Beurteilung, ab wann etwas als Seitensprung eingestuft wird. Die ökonomische Bedrohung der Zweierpartnerschaft, nach dem Motto Egal, was du tust, aber bitte pflanze dich nicht mit anderen fort. Die soziale Variante mit der Regel Egal, was du tust, aber bitte lass es nicht Dritte wissen. Und die emotionale Bedrohung, wo es heißt Dein ganzes Interesse muss mir gelten. Hierbei besteht die Möglichkeit, die Kriterien ständig zu verschärfen. Es genügt dann vielleicht nicht, dass man nur mit anderen nicht schläft, man darf auch nicht mit ihnen sprechen, sie ansehen oder an sie denken.
WOMAN: Sie glauben nicht an die ewige Treue, finden aber auch offene Beziehungen nicht erstrebenswert. Was also dann?
Pfaller: So wie die unerbittliche Forderung nach Treue hat auch die vermeintlich ehrliche, offene Beziehung etwas Grausames gegenüber dem anderen: Nämlich die Vorstellung, alles sagen zu dürfen ja sogar zu sollen. In beiden Fällen sind die Menschen einem extremen Druck des Gewissens ausgesetzt. Die Folge sind heute weit verbreitete Effekte: Schwund des Begehrens, Aggression, baldiges Scheitern der Beziehungen. Angesichts dieser Mieseren scheint es mir lohnend, zu fragen, ob es nicht einen liebevolleren, aber auch erwachsenen Umgang mit dem anderen darstellt, nicht alles von ihm oder ihr wissen zu wollen.
WOMAN: Warum reicht ein Liebster nicht mehr?
Pfaller: Weil sich die verschiedenen Funktionen des Partners in den letzten Jahrzehnten und das ist in der Geschichte etwas Neues allesamt auf die Zweierbeziehung konzentriert haben: Plötzlich musste der Partner verlässlich für den Notfall sein, aber auch nützlich für die Unterstützung der eigenen Karriere, darüber hinaus zutiefst verständnisvoll, aber auch erotisch prickelnd. Es ist klar, dass die eine Person, die all das dauernd und simultan hinbekommt, kaum zu finden ist. Da ist es vielleicht klug zu überlegen, was man für diesen Menschen sein möchte und welche Funktionen man besser anderen neidlos überlässt.
WOMAN: Macht es Sinn, mit dem Partner im Vorfeld die Grenzen des Vertretbaren abzustecken?
Pfaller:
Weil Sprechen immer auch ein Tun ist, kann man gerade in der Liebe nur sehr wenig im Vorhinein besprechen. Denn es macht anderes Tun unmöglich. Darum müssen wir selbst in den eindeutigsten Situationen, anstelle Klartext zu reden, so charmante kleine Umschreibungen verwenden, wie z. B. Kommst Du noch mit auf einen Tee?
Abgesehen davon passiert es nur sehr selten, dass sich Leute sozusagen irrtümlich zueinander hingezogen fühlen, obwohl sie völlig konträre Vorstellungen von der Liebe haben. Meist ahnt man doch wenigstens vorbewußt recht genau, was der Andere will. Und wenn es wirklich passiert, dass zwei divergierende Beziehungsvorstellungen oder Weltbilder sich paaren, dann vielleicht auch gerade deshalb, weil sie sich zu etwas Gegensätzlichem hingezogen fühlen. Angleichung durch Verhandlung und Vorabklärung wäre da wohl kontraproduktiv. Denn der Andere, der sich den eigenen Vorstellungen völlig fügt, verliert leicht seinen Reiz und wird schnell verlassen. Hier gilt Jenny Holzers Satz Protect me from what I want.
Wir sollten uns außerdem klarmachen, dass Menschen immer Abgründe haben, die sie nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst gern verbergen möchten. In Liebesbeziehungen ist es darum notwendig, ein bisschen weise zu agieren. Wir dürfen der anderen Person oft nicht zeigen, dass wir ihre Abgründe bemerkt haben, denn dadurch machen wir es ihr unmöglich, sie vor sich selbst zu verbergen. Und wir sollten nicht glauben, dass wir die geliebte Person bessern oder liebenswerter machen könnten, indem wir ihre Abgründe tilgen. Denn was wir an ihr lieben, sind nämlich in Wahrheit erstens gerade diese Abgründe, und zweitens ihre Versuche, sie zu verbergen.
WOMAN: Nennen Sie uns bitte die fünf häufigsten Gründe, warum jemand untreu ist?
Pfaller:
So, wie es viele Formen der Liebe gibt, gibt es auch viele Gründe für nicht-monogame Sehnsüchte. Manche monogam lebende Menschen suchen in der Affäre vielleicht nur die bessere Monogamie. Sie ersetzen dann oft die eine durch die andere.
Andere Leute hingegen leben in ihren Affären etwas ganz Anderes als in der Ehe oder in der Zweierbeziehung. Wie Milan Kundera einmal bemerkt, werden in den Affären auch ganz andere, spielerische, oft perverse Sexualitäten praktiziert, die in der festen Beziehung offenbar strukturell ausgeschlossen sind - so sehr die Erotikmessen und Dessous-Shops den Ehepaaren derzeit das Gegenteil suggerieren möchten.
WOMAN: Kann ein Seitensprung eine Beziehung langfristig beleben bzw. verbessern?
Pfaller: Wenn man Gefahr läuft, eifersüchtig zu werden, dann sollte man sich vielleicht fragen, ob es einem eigentlich wichtiger ist, wie der Andere sich zu Dritten verhält, oder aber wie er sich zu einem selbst verhält. Ich habe doch nichts davon, wenn die geliebte Person sich ihren Appetit versagt und dann zu mir grantig ist. Da ist es doch besser, sie erlebt etwas Aufregendes und ist dann glücklich und auch mir gegenüber wieder entspannt und liebevoll - wenn nicht vielleicht sogar durch die neuen Erfahrungen kenntnisreicher und interessanter geworden. Ich persönlich jedenfalls habe gegenüber den unbekannten Lehrmeistern und Lehrmeisterinnen meiner Geliebten immer eine gewisse Dankbarkeit empfunden. Es ist übrigens auffällig, dass erfahrene Frauen und Männer derzeit ihre Erfahrung kaum als einen Schatz betrachten, obwohl sie das zweifellos ist. Dass Liebe, ebenso wie Tanzen oder Skifahren, bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten und mithin Erfahrung und Übung voraussetzt, und nicht einfach nur intensive Gefühle, wird gerade gegenwärtig meist als kränkend empfunden. Das ist bezeichnend für die jugendfixierte Epoche, in der wir leben. Wir wollen nichts lernen müssen und fürchten, uns einer Idealvorstellung zu fügen, die wir nicht selbst geprägt haben. Da wechseln wir lieber das Spiel. Darum wollen sich alle ständig ganz neu konstruieren und kommen dabei nur sehr selten zu einem für sie brauchbaren Abschluss.
WOMAN: Beichtet man einen Seitensprung demnach besser oder verschweigt man ihn lieber?
Pfaller: Mir erscheint es rücksichtsvoller, zuerst zu überlegen: Will der andere das wissen? Muss er es wissen? Ist es sein Bedürfnis, oder nur das meine, dass er das gesagt bekommt? Der Philosoph Spinoza bemerkte: Wer einen Fehler macht und danach Schuldgefühle hat, macht einen zweiten Fehler. Gerade in Liebesbeziehungen scheint mir das zuzutreffen: Es ist eine Gemeinheit, den andere zu informieren, nur weil man sich selbst dadurch von Schuldgefühlen befreien will. Heimlichkeit wäre aus dieser Perspektive kein Verbrechen, sondern ein Versucht, den anderen zu schützen.
WOMAN: Und wenn der Partner recherchiert und selbst draufkommt, dass er betrogen wurde?
Pfaller: Es müssen beide die Fiktion der Liebe bewahren. Die eine Seite behält den Seitensprung für sich, die andere erzählt nicht, dass sie ihn herausgefunden hat. Das Verschwiegene kann übrigens auch darin bestehen, dass es gar kein Geheimnis, keine Affäre gibt. Wenn dem so ist, dann muss zumindest das mein kleines, schmutziges Geheimnis bleiben dürfen. Das ist das Minimum an Respekt, das man einander in einer Liebesbeziehung schuldet. Sonst läuft man Gefahr, mehr Intimität und Nähe mit einem Mangel an Achtung zu verwechseln und dem anderen jeden Reiz zu nehmen.
WOMAN: Welchen Hintergrund hat es, dass Menschen eifersüchtig sind?
Pfaller:
Auch dieses scheinbar evidente Gefühl besitzt wohl eine Kulturgeschichte und hat sich im Lauf der Zeit stark verändert. Die Eifersucht nimmt dann zu, wenn sich das Liebesleben entformalisiert wenn also z. B. der Ehemann nicht mehr durch irgendwelche amtlichen Kennzeichen als solcher ausgewiesen ist und darum beim ersten Nebenbuhler fürchten muss, seinen fragilen Status zu verlieren. Die Ent-Formalisierung des Beziehungslebens führt auch zu einer Verkümmerung des Vorstellungsvermögens in Bezug auf die Vielfalt möglicher Liebes- und Beziehungsformen. Dass die Liebe nicht nur eine einzige, meist mit Gründung eines gemeinsamen Haushalts verbundene Form kennt, sondern auch noch ganz andere wie zum Beispiel die Form Geliebte oder Komplize, worauf die Literaturwissenschaftlerin Victoria Griffin in einem schönen Buch hingewiesen hat gerät völlig zum Undenkbaren.
Was passiert, wenn die Liebe in bestimmten Epochen so sehr auf die Zahl Eins fixiert zu werden scheint, vermag ich mir nur psychoanalytisch zu erklären. Dieser Eins und ihrem Privileg in der Psyche kann nur das eigene Ich das Vorbild geliefert haben. Wer wirklich nur eine einzige Person lieben kann und überhaupt nicht erträgt, dass diese vielleicht auch andere lieben könnte, liebt darum auf sehr narzißtische Weise. Mir erscheint dann oft fraglich, ob das geliebte Eine überhaupt eine andere, vom Ich verschiedene Person ist. Oft gibt die andere Person wohl nur eine hauchdünne Bedeckung für das Ich ab - und wird auch schnell enttäuscht abgeworfen, sobald sie sich, zum Beispiel durch eigenen Willen, zu deutlich davon abhebt. Spätestens in der Eifersucht, die Sigmund Freud als Paranoia begriff, tritt das Narzißtische dieser monogamen Liebe jedenfalls deutlich zutage. Eifersüchtig sind wir dann, wenn wir den Anderen als alter ego missbrauchen und ihm nicht die geringste Eigenständigkeit zugestehen.
WOMAN: Thema Kontrolle. Was löst sie aus?
Pfaller: Kontrolle hat nichts mit Liebe zu tun und ist nur abtörnend, für beide Seiten.
WOMAN: Antörnend hingegen sollen Facebook & CO sein und die Häufigkeit an Seitensprüngen deutlich steigern.
Pfaller: Nicht die Häufigkeit hat zugenommen, es hat sich nur anstelle der festeren Liebesbeziehungen ein zweites Feld von sehr flüchtigen, unverbindlichen Beziehungen eröffnet. Diese werden von Menschen gepflegt, die einerseits enorme, übersteigerte Erwartungen an die andere Person hegen und andererseits große Angst vor Entscheidungen haben.
WOMAN: Malen Sie uns bitte noch ein Zukunftsbild: Wie sieht Beziehung dann aus?
Pfaller: Wenn wir Glück haben, so weise und behutsam, wie ich versucht habe, es hier zu beschreiben. Wenn wir Pech haben, so gnadenlos wie in einem Talibanstaat oder wie in den USA.
Interview: Katrin Kuba, Katharina Domiter