Inzwischen ist Montag, aber ich denke immer noch an sie. Ich hoffe immer noch, dass sie gut nach Hause gekommen ist. Aber von vorn. Es war am Freitag, in der U-Bahn-Station Reumannplatz, ca. 21 Uhr. Ich war am Weg zu einer Party. Schon von Weitem sehe ich eine sehr dünne, offensichtliche schwer alkoholisierte, tränenüberströmte Frau. Ein junges Mädchen steht neben ihr und versucht zu helfen. Aber die Frau ist schwer zu verstehen durch das Schluchzen und den Alkohol, wir können nicht eruieren was passiert ist oder wie sie heißt. Immerhin: Wir finden heraus, dass sie aus Wien kommt und in welchem Bezirk sie wohnt.
Da ich mir nicht sicher bin, ob sie es alleine schafft mit der U-Bahn quer durch Wien zu fahren, ihre Versuche mit dem Handy jemand zu erreichen scheitern, biete ich an, gemeinsam zum Karlsplatz zu fahren und dort umzusteigen. Sie willigt ein, gibt mir sogar noch die Zigarette, die sie am Bahnsteig raucht, damit ich sie ausmachen und wir einsteigen können. In diesem einen Moment, in dem ich sie aus den Augen lasse um die Tschick wegzuschmeißen, kommt ein Mann, um die 50 und „begleitet“ sie in die U-Bahn, setzt sich neben sie. Am Anfang dachte ich noch, dass er einfach ein hilfsbereiter Typ ist. Sicherheitshalber setze ich mich aber auch noch zu den beiden - zu sehr hat mich der Zustand der Frau, die in etwa so wie ich um die 30 Jahre alt gewesen sein dürfte, verunsichert. Und weil ich nicht so genau weiß, was ich eigentlich mit einer verwirrten, kaum ansprechbaren, weinenden Frau machen soll, rufe ich eine befreundete Sozialarbeiterin an. Sie hat natürlich auch keine allgemeingültige Handlungsanweisung für so eine Situation, ich soll sie im Idealfall irgendwie sicher nach Hause bringen.
Und noch während ich telefoniere, bemerke ich, dass der vermeintlich hilfsbereite ältere Herr, den Arm um sie legt. Die schluchzende Frau ist motorisch auch nicht mehr die Begabteste, fällt unkontrolliert durch die Gegend - was der Mann offenbar als Aufforderung begreift, sie noch fester zu umarmen und ihr mit einem Taschentuch die Nase zu putzen. Während ich ihn mit immer noch grimmigeren Blick anschaue und schon sage, „Bitte greifen Sie die Frau nicht an“, „Halten sie etwas Abstand“, etc., sagt er ihr, dass sie sich keine Sorgen machen muss, er würde sie nach Hause bringen. Und - ich gebe es zu - für den Bruchteil einer Sekunde, habe ich wirklich darüber nachgedacht, ob ich sie mit ihm gehen lassen soll. Schließlich musste ich zu einer Party, war eh schon spät dran und wer weiß, wie lange die ganze Action mit der Schwerstbetrunkenen noch dauern würde. Allein für das Aufblitzen dieses Gedankens schäme ich mich. Auch wenn ich zum Glück ohne eine Sekunde zu zögern anders gehandelt habe. Denn in so einer Situation denkt man gar nicht mehr wirklich nach, sondern funktioniert einfach und tut das Richtige.
"Danke und auf Wiedersehen!"
Und das Richtige war in dem Fall, beim Erreichen der Station Karlsplatz der Frau die Hand hinzustrecken, zu fragen, ob es in Ordnung für sie sei, wenn ich sie jetzt begleite und ob es in ihrem Sinn ist, den Mann wegzuschicken. Ihr „Ja bitte hilf mir“ und die klammernde Umarmung, waren Zeichen der Zustimmung genug. Also steigen wir Arm in Arm aus der U-Bahn, der Mann versucht sich noch ein letztes Mal einzumischen. Ich schaue ihn an und sage bestimmt und in einer Lautstärke, dass es auch die anderen Fahrgäste hören können: „Danke für alles, aber jetzt ist Schluss. Wir brauchen Ihre Hilfe nicht. Auf Wiedersehen.“ Damit hatte er offenbar nicht gerechnet, schaut verdutzt. Nachdem wir ihn nicht mehr weiter beachten und zielgerichtet von ihm weggehen, gibt er auf. Wir stehen auf der Rolltreppe - mein Herz rast. Mein Hirn rast. Was mache ich jetzt mit ihr? Wie stelle ich sicher, dass sie nicht einem anderen ekligen Typ - im wörtlichen Sinne - in Hände fällt?
Die Lösung liegt auf der Hand, sie muss in ein Taxi, das sie auf direktem Weg nach Hause bringt. Als ich diese Variante vorschlage, gerät sie in Panik - sie habe kein Geld, sie könne sich ein Taxi nicht leisten. Das war mir ehrlichgesagt schon vorher klar und kein Grund, sie - endlich oben am Ring angekommen - sich selbst zu überlassen. Ich versichere ihr 100 Mal, dass ich das Taxi bezahlen werde und sie mir nichts schuldet - was sie bis zu dem Moment, wo sie endlich in Sicherheit am Rücksitz des Taxis sitzt, nicht glauben will. Dem - überaus freundlichen - Taxifahrer, der keine Anstalten macht, sie ob ihrer Betrunkenheit als Fahrgast abzulehnen, gebe ich 20 Euro und bitte ihn, sie zu der von ihr genannten Wohnadresse zu bringen. Er weiß wo das ist und versichert mir, dass er sie gut nach Hause bringen wird. Sie umarmt mich ein letztes Mal durch das offene Taxifenster und versteht die Welt nicht mehr. Denn Menschen, die sich um andere kümmern, obwohl sie sich nicht kennen und es nicht müssten, dürften dieser Frau in ihrer Lebensrealität nicht allzu viele begegnen.
Passt aufeinander auf!
Aber ich hoffe, dass ich nicht die letzte war. Ich denke immer wieder an sie und frage mich, ob sie noch gut nach Hause gekommen ist, wie ihr nächster Tag war, ob sie wieder zurück zu ihrem Freund gegangen ist, der ihr angeblich ihre letzten 30 Euro aus dem Geldtaschl gefladert hat, bevor er sie in dem Zustand alleine am Reumannplatz stehen gelassen hat. Wahrscheinlich. Da kann ich mich nicht einmischen. Wo man sich aber sehr wohl einmischen kann und muss, ist wenn man sieht, dass ein Mann einen Vorteil aus der Hilflosigkeit einer offensichtlich betrunken und verlorenen Frau schlagen will. Deshalb schließe ich diesen Text ganz bewusst mit einer Handlungsaufforderung, von der ich hoffe, dass sie auch jemand anderer umsetzt, wenn ich einmal Hilfe brauche. Frauen (und auch Männer!): Passt aufeinander auf!
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