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WOMAN-Liebesroman: 2. Folge & alternative Folgen

Kultautor Thomas Glavinic startete - schon zwei WOMAN-Leserinnen schrieben die Story weiter! Mache mit, schicke deinen Text und werde Teil des großen Liebesromans!


WOMAN-Liebesroman: 2. Folge & alternative Folgen
© Sebastian Reich/News

Mit Thomas Glavinic hat der WOMAN-Liebesroman begonnen (hier geht es zu seinem Anfang). Er stellte in der ersten Folge die Protagonisten Lina aus Wien und Niko aus Berlin vor, die sich eines Abends zufällig begegneten und nun nicht mehr voneinander loskommen. Doch wird es klappen, werden die beiden zusammenkommen? Dass es wirklich so viele schreibbegeisterte WOMAN-Leserinnen gibt, hat die Redaktion nicht verwundert. Erstaunt waren wir über die Qualität der Texte – und wir haben uns die Auswahl wirklich nicht leicht gemacht. In der vorigen WOMAN-Ausgabe hat Eva Heinzl aus Wien die Geschichte wunderbar weitergesponnen und einen Ortswechsel nach Zakynthos angeregt (hier geht es zur Folge von Eva Heinzl). Diesen Vorschlag griff die Gewinnerin der zweiten Folge, Hermine Pfrogner, gerne auf. Denn die ehemalige Französischprofessorin und passionierte Reisende besuchte schon die griechische Insel und meint: „Die Verankerung einer Geschichte mit einem bestimmten Ort gefällt mir sehr gut.“ Im aktuellen WOMAN (ab 01.August 2014 im Handel) findest du die dritte Folge abgedruckt. Zwei weitere Texte findest du hier. Aber nur der Text, der in WOMAN erscheint, soll von dir weitergesponnen werden. Wie du teilnimmst, erfährst du unter woman.at/liebesroman !

Wir schreiben einen Roman!

So geht es weiter mit Lina & Niko, verfasst von WOMAN-Leserin Hermine Pfrogner.

Der nächste Morgen dämmerte ungewöhnlich fahl durch die hohen Fenster ihres Hotelzimmers. Reste eines nächtlichen Regens hingen noch über der Stadt und dämpften die Farben.
Lina hätte sich in der wohligen Wärme des Bettes gerne noch eine Weile ihren Träumen hingegeben, aber die Pflicht rief. Galt es doch heute, das gestern Versäumte nachzuholen und möglichst schnell über die Bühne zu bringen, was sie sich sonst noch vorgenommen hatte, um sich freizumachen für ein Treffen mit Niko.

Ihr Blick fiel auf das schon ausgedruckte Flugticket, das neben ihrem Handy auf einem Tischchen lag. Sie nahm das unscheinbare Blatt Papier in die Hand.
Rom-Zakynthos, Flug AZ713, und das Datum von morgen Sie hatte nicht geträumt. Also musste es auch das zweite Ticket geben. Berlin-Zakynthos. Nikos Ticket.
Vier Tage hatte sie ursprünglich in Rom bleiben wollen. Vier Tage auf der für sie wichtigsten Buchmesse des Jahres. Dies bedeutete vor allem vier Tage Dauerstress mit ungeduldigen Autoren, unerbittlichen Verlegern und jeder Menge skurriler Zaungäste. Aber auch Tage der Freude, wenn ihr wieder einmal ein besonderer Fund gelang, was Gott sei Dank oft genug vorkam, um davon leben zu können.
Und jetzt das: ein Flugticket nach Zakynthos! Noch dazu für morgen.
Lina liebte ihren Beruf. Dieses Leben mit und von Büchern war genau nach ihrem Geschmack. Heute aber lag etwas in der Luft, das sie erstaunte und irritierte. Etwas, das sich zwischen sie und ihren geordneten Tagesplan schob. Ein neuer Schwung. Eine Art Aufbruchsstimmung.
Die Messe, die zu sichtenden Manuskripte, der volle Terminkalender, die Zeitnot, die Spannung - alles Gewohnte war plötzlich weit weg. Eine eigentümliche Ruhe breitete sich in ihr aus. Als hätte nicht nur das Wetter ungeschlagen.
Aber warum? Und vor allem: Was nun?
Sie checkte erst einmal ihre Mails. Keine Nachricht von Niko.
Sie trat an ein Fenster und blickte auf die noch ruhige Straße. Es regnete wieder leicht. Auf Zakynthos scheint sicher die Sonne, dachte sie.
Auf Zakynthos scheint fast immer die Sonne. Und vom Flughafen aus kann man das Meer sehen. Als zartblauen Streifen am Horizont.
Mit Niko auf Zakynthos!
Erste Schmetterlinge begannen in ihrem Bauch zu flattern.
Niko statt Buchmesse ... Zakynthos statt Rom ...
Aber wenn sie schon seinetwegen drei Messetage versäumte, was hinderte sie dann noch daran, auch den vierten Tag zu streichen?
Diesmal gar nicht da sein ... Nie angekommen ...
Einmal ausbrechen! Einmal etwas ganz Verrücktes tun! Einmal nicht nur funktionieren, wie andere es von ihr erwarteten!

Einem spontanen Impuls folgend setzte sie sich an das Tischchen und verfasste eine kurze, sehr höfliche Nachricht, in der sie mit großem Bedauern und aus rein privaten Gründen ihre Termine absagte. Schließlich informierte sie auch die Messeleitung.
Als sie auf Senden drückte, fühlte sie sich, als wäre sie gerade heimlich durchgebrannt. Die Sache hatte etwas von Schule schwänzen und passte eigentlich gar nicht zu ihr. Aber es war geschehen. Sie hatte tatsächlich alle Nachrichten abgeschickt. Ihr Schritt war unumkehrbar.
Auf dem Weg ins Bad begegnete sie ihrem lächelnden Spiegelbild. Diese zu allem entschlossene, verliebte Frau bedurfte jetzt besonderer Aufmerksamkeit. Man konnte ihr nicht zumuten, abgestandene Messehallenluft zu atmen. Diese verliebte Frau musste hinaus. Hinaus in die Stadt. Hinaus ans Licht. Unter Menschen. Um zwischen prächtigen Palästen, zwischen Kuppeln und Türmen die Seele baumeln zu lassen und an nichts anderes mehr zu denken als an Niko.
Niko!
Du bist frei. Endlich frei. Und verliebt. Dieser Tag ist dein Tag. Dein Tag in Rom. Du darfst das Programm bestimmen. Ich schenke dir einen Tag in Rom. Ganz für dich allein. Und für den Traum von Zakynthos.
Wieder lächelte Lina, und die verliebte Frau im Spiegel strahlte vor Freude.
Eine Stunde später saß sie bereits in ihrem Lieblingscafé am Campo de' Fiori. Das Kopfsteinpflaster glänzte noch regennass, aber die Menschen drängten schon wieder ins Freie und die Terrasse war gut besucht. Auch auf dem malerischen Markt, der diesen Ort zu einem ihrer Lieblingsplätze in Rom machte, herrschte reges Treiben.
Der große Caffè Latte kam prompt mit einem ofenfrischen Cornetto und dem gewohnt freundlichen Lächeln des Kellners. Das Blätterteigkipferl splitterte, als sie hineinbiss. Welch ein Genuss! Doch das Beste kam erst noch. Sie tunkte das lauwarme Gebäck in den Milchkaffee und saugte dann an der weichen Masse, die ihr im Mund zerging.
Linas Gedanken wanderten nach Berlin, wo Niko sicher längst gefrühstückt hatte. Vielleicht würde sie übermorgen bereits wissen, ob auch er sein Kipferl in den Kaffee tunkte und wie viel Zucker er hineintat. Und vielleicht würde sie sogar wissen, ob er auf dem Bauch schlief, auf der Seite oder ...
Übermorgen schon!
Übermorgen auf Zakynthos! Lina erinnerte sich an einige entspannte Herbsttage mit Jojo irgendwo an der Südküste. An vergnügte Stunden und endlose Gespräche mit ihrer liebsten Freundin. An lange Strandläufe und idyllische Abende in griechischen Tavernen mit vorwiegend italienischer Kost.

Zakynthos, das war so etwas wie Italien light. Diese Insel im Ionischen Meer, Rom fast näher als Athen. Mit den vielen Häusern im venezianischen Stil. Und mit den roten Ziegeldächern, die in der Sonne leuchteten.
Zakynthos war aber auch ein Ort für wahre Romantiker. Und für Tierfreunde.
Einen gewissen Hang zur Romantik traute sie Niko durchaus zu, und vielleicht war er sogar tierlieb. Dann könnte sie mit ihm die Meeresschildkröten besuchen. Oder sie könnten ein Boot mieten und in die Schmugglerbucht segeln. Zu dem sagenumwobenen Piratenschiffswrack, das in der kleinen, abgeschiedenen Bucht auf Sand lag und langsam verrottete ...
Es hatte längst zu regnen aufgehört, und da und dort zeigte sich bereits ein Fleckchen Blau am Himmel. Also machte sich Lina auf zu ihrem ganz persönlichen Streifzug durch Rom. Den ganzen Tag lief sie kreuz und quer durch die Stadt, und als sie sich gegen Abend müde, aber glücklich, am Forum Romanum wiederfand, blickte sie auf die Reste eines Imperiums, das ihr noch nie so nah gewesen zu sein schien wie heute.
Vielleicht ist es doch nicht so, dass man sich in eine Person verliebt, weil man deren Stadt liebt, dachte sie. Aber es ist ganz sicher so, dass jede Liebe einen Ort braucht, wo sie sich verankern kann. Sei es nun Rom, Berlin, Wien - oder Zakynthos.

Alternative Folgen.

Eva Heinzl, 52, aus Wien.

Sie erwachte voller Mut. Mut für ihr Treffen mit Niko. Doch noch war es nicht so weit. Vor ihr lag noch ein Tag dichtgedrängter Messetermine.
Der mutige Traum von letzter Nacht beflügelte sie dazu, die drei Terminpartner mit kecken Ausreden bei Laune zu halten. Sie erfand einen feurigen Römer, der ihr die Sinne geraubt hatte, und erzählte, dass sie bei starken Männern immer so leicht schwach werden würde. Dazu ein reizvoller Augenaufschlag. Welcher Mann konnte da schon widerstehen? Die drei auf jeden Fall nicht. Sie vergaben ihr.
Sie nahm unzählige Termine wahr, knüpfte im Akkord Kontakte und erledigte alles, was sie sich vorgenommen hatte, in einem statt vier Tagen. Die Vorfreude, Niko zu treffen, erhöhte ihren Adrenalinspiegel und sprühenden Elan, wie so mancher Gesprächspartner hoffend feststellte.
Abends fiel sie müde ins Bett, aber nicht müde genug, um nicht noch an Niko zu denken. Würde er ihrer Einladung folgen? Sie hatte den ganzen Tag keine Mail von ihm erhalten, keine SMS. Das machte sie ein wenig nervös. Hatte sie ihn verunsichert? Hatte sie ihm ihre innere starke Frau zu sehr gezeigt?
In ihr gab es den stets wiederkehrenden Kampf, im Job selbstständig und erfolgreich zu sein und gleichermaßen im Privatleben Schwäche zeigen und sich eine Schulter zum Anlehnen wünschen zu dürfen. Ein weiblicher Balanceakt.
Den unruhigen Gedanken folgte ein ebenso unruhiger Schlaf. Sie erwachte aufgeregt, aber noch müde. Heute würde sie nach Zakynthos fliegen. Um Niko zu treffen.
Zu nervös, um etwas zu frühstücken, begann sie, ihren Koffer zu packen. Alles, was sie nach Rom mitgenommen hatte, konnte sie gut brauchen.
Doch halt. Eines fehlte ihr noch: Badebekleidung. Ihr Flug würde in drei Stunden gehen, also hastete sie in die Hotellobby und betrat eine Modeboutique.
Sie blickte sich um, entdeckte die Bademodenecke und nahm gedankenverloren ein paar schwarze Badeanzüge. Auch wenn Schwarz für viele Frauen keine Farbe war, sie hatte damit immer gute Erfahrungen gemacht. Elegante Unauffälligkeit garantiert.
Eine italienische Verkäuferin eilte zu ihr, sah ihre Wahl und schüttelte mit verzweifelt verdrehten Augen den Kopf. Sie maß die Größe ihrer Kundin mit einem kurzen Blick und kam ein paar Minuten später mit einer Auswahl zurück.
Ein Triangel-Bikini im Leopardenlook. Ein verwegener, roter Bikini mit weißen Tupfen. Und als Höhepunkt: Ein Badeanzug, der mehr Stellen frei ließ, als er verdeckte, übersät mit roten Lippen.
Linas Mut fiel in sich zusammen. Für eine Flucht war es zu spät, also nahm sie alle Beutestücke in eine Kabine mit. Im Hintergrund sang Rod Stewart: „Da Ya Think I’m Sexy?“ Sie zog ihre Jeans und das T-Shirt aus, um in den getupften Bikini zu schlüpfen. Er gefiel ihr, nur hätte sie niemals den Mut gehabt, ihn in die engere Wahl zu nehmen.
Ihre Figur konnte sich sehen lassen und ihre Fitnessstunden zeigten Erfolg. Aber sie kaufte trotzdem gerne nicht zu sehr figurbetonende Kleidung, und T-Shirts lieber eine Nummer zu groß, um auf Nummer sicher zu gehen.
Im Spiegel sah sie eine Delle hier, einen Hauch Orangenhaut dort. Ihre Freundin Jojo kämpfte seit Jahren gegen ein paar Kilos zu viel und versicherte ihr stets, wie froh sie über Linas Figur sein würde. All das nutzte aber nichts. Hundertprozentig zufrieden war sie mit sich selbst nie. Als einziger Trost blieb ihr die Tatsache, dass selbst die schönsten Frauen der Welt und auch Models mit ihrem Aussehen haderten.
Als sie den Oberteil des roten Bikinis anhatte, traute sie ihren eigenen Augen nicht. Er sah fantastisch an ihr aus. Sie wippte mit ihren Hüften zum Takt des Songs von Rod Stewart. So sexy hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Im Geiste verbannte sie daheim alle schwarzen Badeanzüge.
Der Bikini bewies ihr, was es hieß, mutig zu sein. Sie fühlte sich verführerisch, obwohl sie noch in der grell beleuchteten Kabine stand und vergessen hatte, ihre Socken auszuziehen. Fünf Minuten später hatte sie den Bikini gekauft. Mit der erstandenen Beute kehrte sie ins Zimmer zurück, packte den Rest und nahm ein Taxi zum Flughafen.
Als sie im Flugzeug saß, verwandelte sich ihre Unruhe in Panik. Was machte sie da bloß? Wie dumm würde sie sich vorkommen, wenn sie in Zakynthos auf Niko warten, er aber nicht kommen würde?
Aussteigen ging nun nicht mehr, denn die Maschine rollte schon langsam Richtung Startbahn.
Kurz nach dem Start schlief sie ein und erwachte erst wieder, als das Flugzeug mit einem leichten Ruck auf der Landebahn aufsetzte. Sie ließ sich bewusst Zeit, als sie ihre Sonnenbrille aus der Tasche nahm. Sie wollte für ihre Niederlage nicht auch noch Zeugen haben.
Sie verließ das Flugzeug als Letzte und ging über das Rollfeld. Das Meer glitzerte ihr entgegen. Ein Silberstreif der Vorfreude. Die Luft schmeckte nach Salz. Die Hitze nahm von ihr Besitz. Es roch nach Thymian.
Durch diese Eindrücke vergaß sie fast, dass sie eigentlich Panik hatte. Sie nahm noch eine Prise frischer Urlaubsluft, bevor sie in die Ankunftshalle trat.
Wann würde seine Maschine landen? Das hatte sie im Stress der letzten Stunden vergessen. Sie suchte nach einer Sitzgelegenheit, wo sie auf ihn warten konnte. In der sie ihre Tränen unbemerkt würde trocknen können.
Zuerst noch den Koffer holen. Das Gepäckförderband setzte sich träge in Bewegung. Aus dem Schlund fielen Gepäckstücke heraus, rollten, purzelten, um Runden zu drehen.
Plötzlich stellte sich ein Mann genau zwischen sie und das Förderband. Unfreundlich blickte sie auf, überlegte, in welcher Sprache sie ihm deutlich machen sollte, dass er ihr im Wege stand.
Zuerst sah sie das Schild, das er vor sein Gesicht hielt: „Ich suche dich und Me(h)(e)r!“
Fast hätten ihre Knie versagt. Aber auf dem Boden liegend, wäre die Romantik zerstört worden, also versuchte sie, sich zusammenzureißen.
„Bist du der Trottel, der nur an mich denkt?“, war das Einzige, das ihr einfiel. Erschrocken blickte sie auf das Schild, das sich nun langsam senkte. Sie hätte sich ohrfeigen können. Sie hatte es schon wieder geschafft, etwas Unpassendes zu sagen.
Als das Schild auf der Höhe seiner Nase war, sah sie, dass Niko hellblaue Augen hatte, die vor Vergnügen blitzten. Gott sei Dank, er hatte ihr den blöden Satz nicht übel genommen.
Als das Schild vor seiner Brust stoppte, sah sie, dass er seine Augen plötzlich geschlossen und seine Lippen erwartungsvoll gespitzt hatte.
Die Angst fiel von ihr ab, sie küsste ihn sofort.

Susanne Eck, 38, aus Wien.

Die Berliner Nacht war jetzt im Sommer fast genauso dunkel und samtig-warm wie in Rom.
Niko stand vom Schreibtisch auf, kreiste seine Schultern und strich sich dann nervös mit der Hand durch die dunkelblonden Haare. Es war einfach so über ihn gekommen. Er war impulsiv. Lina ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Attraktiv war sie, völlig uneitel und natürlich, intelligent und interessant im Gespräch. Der Abend war nur so vorbeigeflogen in ihrer Gesellschaft. Eigentlich war Katharina an allem schuld. Du musst wieder einmal raus, hatte sie gemeint. Es ist jetzt über ein Jahr her, und es ist Sommer. Du wirst sehen, es wird dir guttun.
Was für ein Idiot er gewesen war – einfach ein Flugticket zu kaufen. Eine völlige Schnapsidee. Kein Wunder, dass Lina bis vorhin nicht einmal geantwortet hatte. Hatte er sich den Zauber dieses Abends doch nur eingebildet? Hatte er zu schnell zu viel gewagt? Ja, vielleicht, aber doch nur, weil er in den Stunden mit Lina ins Leben zurückgekehrt war. Weil er gespürt hatte, dass er als Mann das erste Mal wieder lieben und begehren konnte. Das erste Mal seitdem.
Er wollte wieder raus, das Leben spüren, nachdem er es ein Jahr lang an sich vorbeiziehen hatte lassen. Nach stundenlangem Warten hatte Niko den Laptop dann abgeschaltet und sich an die Baupläne gesetzt. Das Rechnen und Feilen hatte seine nervöse Unruhe aber nicht bekämpfen können. Wenn Lina doch kommen würde! Er würde ihr sein Berlin zeigen, die versteckten Seiten, vielleicht seine zwei Bauprojekte, die er als Architekt derzeit betreute. Und er würde ihr natürlich seine große Liebe vorstellen.

Der Morgen in Rom war so lebendig wie der Abend es gewesen war. Aus ihrem Hotelzimmerfenster schaute Lina auf die enge Gasse hinunter. Bunte Vespas schlängelten sich hupend um Kleinlastwägen, die entladen wurden, und knatterten fröhlich in allen Tonlagen. Am Ende der Gasse konnte Lina ein kleines Café sehen – ideal für ein Frühstück alla italiana. Ein Espresso an der Bar und ein Croissant oder so etwas Ähnliches, und dann ab zum Messecenter. Auf dem Weg dorthin würde sie die Terminverschiebungen angehen.
Zuerst einen Espresso.
Lina machte sich sorgfältig zurecht. Ein schickes sommerliches Etuikleid, eines ihrer liebsten. Dazu bequeme, aber elegante Schuhe. Ein leichter Blazer für die Besprechungen in den klimatisierten Untiefen des Messecenters. Als sie ihr Handy in die Tasche packte, zögerte sie kurz und rief dann doch ihre Mails ab. Noch keine Antwort von Niko. Nun, es war ja auch erst halb acht.
Denk jetzt nicht daran.
Zuerst einen Espresso.
Die Buchmessen waren etwas, worauf Lina hätte verzichten können, doch sie waren extrem wichtig. Sie hatte sich in den letzten vier Jahren ein gutes Netzwerk aufgebaut, aber sie musste am Ball bleiben, sich sehen lassen, sonst vergaß man sie. In den Messehallen und Konferenzzentren, wo Manuskripte die Rechte wechselten, Verträge verhandelt und Provisionen festgesetzt wurden, verdiente Lina ihr Geld.
Sie schüttelte den Anflug schlechten Gewissens ab. Übermorgen würde sie nach Zakynthos fliegen.
Sie hatte gestern drei Termine versäumt und würde zwei von übermorgen vorverlegen müssen, aber wozu war man selbstständig? Wozu das ganze Risiko, wenn man nicht auch die Freiheiten genoss?
Der einzig wirklich in Stein gemeißelte Termin, nämlich der mit Mauro Bugatti heute Abend, war zum Glück ungefährdet. Sein Verlag war genauso klein und fein wie ihre eigene Agentur, und sie hatte ein gutes Gefühl bei der Sache. Sie war schon länger überzeugt, dass zwei ihrer Autoren perfekt zum Stil des Verlags passten, aber bei der Buchmesse in Frankfurt war sie nicht an ihn herangekommen. In Rom war die Veranstaltung kleiner, die Verlage waren zugänglicher, doch selbst hier hatte sie den Termin Wochen vorher fixieren müssen.
Lina trat aus dem Hotel auf die belebte Gasse hinaus. Sie blieb stehen und ließ sich die warme Morgensonne ins Gesicht scheinen. Eilige Römer schoben sich vor und hinter ihr am Gehsteig vorbei, aber Lina kümmerte sich nicht darum. Sie würde heute nicht viel frische Luft bekommen. Ein anstrengender Arbeitstag wartete auf sie. Sie konnte das vertraute Kitzeln in den Fingerspitzen spüren, die leichte Aufregung, den erwachenden Jagdinstinkt. An den guten Tagen liebte sie ihre Arbeit, und heute war so ein Tag. Sie hatte das Ruder in die Hand genommen, schon gestern. Sie bestimmte wieder. Sie war gut in dem, was sie tat. Die rote Markise des Cafés leuchtete zu ihr hinüber. Auf in den Tag.
Aber zuerst einen Espresso.

Im Glas des geöffneten Altbaufensters nahm Niko eine Bewegung wahr. Die Tür hinter ihm öffnete sich langsam. Ein kleines Mädchen tappte in ihrem geblümten Pyjama auf ihn zu, ihr Kuschelhäschen fest im Griff.
„Papi, ich bin aufgewacht.“
Niko nahm die Kleine auf den Arm und küsste ihre Nasenspitze. „Was machst du denn hier, du Nachtgespenst? Komm her.“
Die Kleine kuschelte sich an seine Schulter, ihre Augen fielen fast schon wieder zu. „Bleibst du immer da, Papi? Gehst du nicht weg? So wie Mami?“
„Nein, Maus“, flüsterte Niko und streichelte ihr übers Haar. „Ich bleibe bei dir. Ich gehe nicht weg. Also, jetzt stecken wir das Häschen wieder ins Bett. Und dich auch.“

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