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"Ich spielte die Rolle meines Lebens"

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Etchika Pollex

©WOMAN / David Visnjic
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Sie kam vor 67 Jahren als "Olaf" auf die Welt, ist heute eine erfolgreiche Box-Managerin und führte bis vor sieben Jahren ein Doppelleben. Chefredakteurin Euke Frank traf Etchika Pollex, eine warmherzige und kluge Frau mit einer unglaublichen Geschichte, die uns alle Augen und Seele öffnen sollte. Ein Gespräch über Liebe, Leben und den Tod.

Mit sechs Jahren, sagt sie, habe sie zum ersten Mal bemerkt, dass sie anders ist. Bis dahin war sie fest überzeugt gewesen, dass sie einfach die kleine Version ihrer Schwester Roswitha, damals 10, sei. Ein Mädchen, die Schwester der Schwester. Etchika Pollex wuchs als "Olaf Pollex" in den 1950er-Jahren im Berliner Osten auf. Ein hübscher, zarter Bub, der bei seiner Oma lebte, weil die Eltern sehr viel arbeiten mussten. Olaf machte später eine Krankenpflegerausbildung, heuerte auf einem Schiff an, arbeitete in Rio de Janeiro in einem Spital - und wurde letztlich als Box-Manager berühmt, erfolgreich und wohlhabend. Seine und seit sechs Jahren ihre Geschichte ist berührend, traurig, aber letztlich auch mit der Hoffnung verbunden, dass Menschen nicht nur ein Recht darauf haben, ein selbstbestimmtes, ehrliches Leben führen zu können, sondern das auch schaffen. Die Kraft, die Etchika für all das aufbrachte, ist übermenschlich. Ihren Frieden hat sie gefunden, sagt sie. Und trotzdem bleibt eine große Schwere zurück, auch weil sich ihr Wunsch nach Familie nie wirklich erfüllte.

Wir haben Anfang September das erste Mal Kontakt. Sie lebt nach einer Trennung in Wien, hat ihre Zelte in Berlin abgebrochen. Wir schreiben, wir telefonieren - ihre Stimme klingt wie jene von Marlene Dietrich, rau und rauchig. Das erste große Gespräch findet in ihrer Dachgeschosswohnung, einen Steinwurf vom Wiener Naschmarkt entfernt, statt und dauert mehrere Stunden. Sie empfängt uns in einem zartrosa Kleid und hohen Schuhen - eine Erscheinung, auch weil sie damit noch größer wirkt. Sie ist herzlich, strahlend und eine liebevolle Gastgeberin.

Mein Körper ist eine Montagsausgabe. Da wurde was verwechselt.

Etchika, auf deinem WhatsApp-Profil steht: "Verwechsle meinen Charakter nicht mit meinem Verhalten. Mein Charakter bin ich, mein Verhalten hängt von dir ab!" Wie würdest du dich selbst beschreiben?

ETCHIKA: Ich würde sagen, ich bin eine sehr authentische Person. Ich habe mein Herz auf der Zunge. Aber ich merke gerade, mich selbst zu beschreiben, ist schwer. Ich mag Schokolade, meine Lieblingsfarbe ist Lila. Ich bin ein Mensch, der Tiefen kennt im Leben. Vielleicht rührt meine Empathie anderen gegenüber da her. Ich habe unendlich viel Liebe in mir. Ich bin überzeugt, dass die Liebe alles bezwingt. Ich bin sehr geradlinig, ich lebe mit meiner Ehrlichkeit, ich muss mich nicht verstecken - weder privat noch bei meiner Arbeit. Da ist viel Respekt, weil die Menschen wissen, dass ich absolut korrekt bin. Meine Sekretärin sagt immer zu mir: "Frau Pollex, Sie bezahlen die Rechnungen, bevor sie da sind." Das ist das Preußische in mir.

Du bist Mitte der 50er-Jahre im Osten Berlins geboren, im Körper eines Buben. Ist das eine Formulierung, die?

ETCHIKA: Das ist einfach so, ja.

Du bist bei deiner Oma aufgewachsen. Wann hast du das erste Mal gespürt, dass das nicht der Körper ist, der mit deiner Seele, mit deinen Bedürfnissen zusammenpasst?

ETCHIKA: Mein Körper ist eine Montagsausgabe (Anm. d. Red.: Werkstück, das zu Beginn der Arbeitswoche hergestellt wurde und daher noch durch fehlende Routine Fehler aufweist). Da war einfach von Anfang an was verkehrt, da wurde was verwechselt. Mit etwa sechs Jahren stand ich mit meiner Schwester, sie war damals 10, im Bad. Wir waren beide nackt, und ich dachte: Wie pinkelt die? Die hat das nicht, was ich habe. Und ich weiß noch, wie tief ich besorgt um sie war, weil sie nicht pinkeln konnte. Da bemerkte ich zum ersten Mal, da ist ein Unterschied zwischen uns beiden. Bis dahin hatte ich immer das Gefühl, wir seien Schwestern. Wir haben zusammen gespielt. Ich habe Mädchenkleidung angezogen. Für mich war sie meine große Schwester und ich ihre kleine Schwester.

Warum seid ihr bei deiner Oma aufgewachsen?

ETCHIKA: Unsere Eltern waren berufstätig, wir sind eigentlich schon als Babys weggegeben worden. Entweder zu Nannys oder eben dann zur Oma. Familie war für mich wie eine Banane, die auf dem Tisch lag. Ich kannte das nicht, hatte noch nie eine gegessen. Und wenn man mir erklärt hätte, wie eine schmeckt, hätte ich es trotzdem nicht erahnen können. Familie, das ist ein Gefühl, ein Zustand, den ich nicht kenne.

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Reden und Grübeln und Lachen. Etchika Pollex im Gespräch mit Euke Frank. Die beiden treffen einander zwei Mal und reden in Summe fast sieben Stunden. Hier in ihrer Dachgeschosswohnung beim Wiener Naschmarkt.

© WOMAN / David Visnjic

Wie haben sich deine Gefühle entwickelt, wie war das später in der Pubertät?

ETCHIKA: Mein Vater hat mich sehr geliebt, bis er gemerkt hat, dass ich nicht das Kind bin, das er sich gewünscht hatte. Ich wollte nicht Fußball spielen, ich war ihm zu wenig männlich. Als ich in die Schule kam, hat er sich von mir abgewendet. Das ist vermutlich das große Trauma meines Lebens. Ich konnte ihn nicht mehr umarmen, nicht mehr zu ihm gehen. Ich habe als Kind nie verstanden, dass er sich abwendet. Ich glaube rückblickend, dass er damals schon dachte, ich wäre homosexuell, schwul, zu weich, er konnte mit meinem femininen Verhalten nichts anfangen.

Was hat er beruflich gemacht?

ETCHIKA: Er war Gastronom, davor bei der Marine, ein richtiger Haudegen. Der wollte natürlich einen Sohn haben, der ein richtiger Kerl ist. Plötzlich stellte er fest, sein Sohn ist ein Mädchen, zumindest feminisiert. Da hat er in unserer Beziehung einen Cut gemacht.

Wie hat sich deine Mutter verhalten?

ETCHIKA: Sie war sehr zurückhaltend, er hatte ja das Sagen in der Familie. Sie ist kaum in Erscheinung getreten. Ich kann mich erinnern, dass ich bei ihrer Beerdigung vor etwa 17 Jahren sehr traurig war, dass ich nicht traurig bin. Das sagt, glaub ich, alles.

Wie war dein Gefühlsleben in der Pubertät?

ETCHIKA: Ich habe mich verliebt. Wie das so ist mit 13 oder 14. In Jungs. In Mitschüler, aber ich wusste, dass das falsch ist, dass da etwas nicht stimmt. Und das ging ja auch nicht. Dann begann ich zu hoffen, dass ich schwul bin. Ich wollte in eine Schublade passen. Wenigstens in diese. Ich habe sehr gelitten. Einmal verliebte ich mich.

Wurde deine Liebe denn erwidert?

ETCHIKA: Bei uns in der Nähe gab es einen Kindergarten, und da war dieser Junge, der seine kleine Schwester abholte. Ich bin hinterhergelaufen, er ging ins Haus rein, die Tür flog zu. Das Einzige, was ich zugelassen habe, war die Berührung der Türklinke. Ich hab mich ihm nie offenbart, ihm nie gesagt, dass ich in ihn verliebt bin. Die Türklinke war die größte Nähe, die ich mir zugestanden habe. Damals begannen auch die psychosomatischen Probleme. Ich konnte in keiner Straßenbahn fahren, bekam sofort Platzangst und starkes Herzrasen. Ich wurde dann in die Psychiatrie eingewiesen, und da gab es diese Ärztin, die die Erste war, die mir sagte, ich sei transsexuell. Ich schaute sie an und wusste gar nichts. Okay, Transsibirische Eisenbahn hatte ich schon mal gehört, aber dass es eine Begrifflichkeit für meine Gefühle gab, wusste ich nicht.

Wir sind in den frühen 1970ern. Was hast du getan?

ETCHIKA: Ich bin in die Bibliothek gegangen, Google gab es ja nicht, und hab Bilder von Transsexuellen gefunden. Das waren hässliche Männer in Frauenkleidern mit schrägen Hüten. Ich weiß noch genau, wie ich dachte: Oh Gott, was habe ich verbrochen? Ich bin eine Kuriosität, etwas, das überhaupt nicht mit mir im Einklang stand. Das soll ich sein? Es war grauenvoll. Ich habe mich immer mehr isoliert, wurde sehr einsam. Einsamkeit ist ein Begriff, der mir sehr vertraut ist, auch später in meinem Leben.

Gab es so was wie einen Therapieplan?

ETCHIKA: Ja, sie hat mich versucht zu therapieren, vor allem auch deshalb, weil ich ja so nicht sein wollte. Ab da habe ich in einer Art Zwielicht gelebt - bis vor sieben Jahren.

Du hast eine Art Doppelleben geführt?

ETCHIKA: Ich hatte wenig Sexualität. Mit wem auch? Ich konnte ja nicht mit einem Kerl mitgehen und sagen, ich bin ein Mädchen. Meinen Schmerz habe ich mit viel Arbeit kompensiert. Und mit Erfolg. Aus mir wurde ein Workaholic. Sperr mich am Klo ein, und ich mach dort auch noch ein Projekt fertig.

Du hast dann als Krankenpfleger gearbeitet, sogar als Matrose auf einem Schiff, hast Karate und Judo praktiziert und bist dann später in der internationalen Boxbranche extrem erfolgreich geworden - eine der härtesten Sportarten der Welt. Wolltest du beweisen, dass du ein richtiger Mann bist?

ETCHIKA: Ich habe mir diese Domänen ausgesucht, um möglichst wenig auf meine eigene Weiblichkeit zu treffen. Ich habe 60 Jahre lang gelogen, dass sich die Balken bogen. Ich konnte nicht die Wahrheit sagen. Ich spielte die Rolle meines Lebens. Mit einem erfundenen Alltag, einer Frau, einem Sohn. Ich, Olaf, war eine traurige Erscheinung. Und gleichzeitig weiß ich heute, dass Olaf ein wichtiger Bestandteil von mir ist.

Wie war dieses Doppelleben? Es muss dich zerrissen haben!

ETCHIKA: Ich hatte eine zweite Wohnung, dort war meine Frauengarderobe. Ich ging im Jogger von einer Wohnung zur anderen. Und dort fand dann die Wandlung statt. Ich zog mich um, ich schminkte mich, ich richtete mir die Haare, ich übte, mit Stöckelschuhen zu gehen Und draußen erzählte ich von meiner Familie, die auf Mallorca lebte.

Gab es Momente, wo du dich als Frau wahrgenommen fühltest, zumindest im Geheimen?

ETCHIKA: Ich arbeitete zwei Jahre als Escort-Domina, nur um eine Frau zu spielen, mich wie eine Frau herrichten zu können. Es war nicht das Geld, ich war längst wohlhabend, und es war nicht die Sexualität, Dominas haben ja im Normalfall keinen Sex mit den Kunden. Ich wollte Frau sein. Ich nannte mich Samantha, war mit Heels 1,95 Meter groß.

2008 kam dann das erste Mal der Gedanke, dich auch äußerlich - für die Öffentlichkeit - zu wandeln.

ETCHIKA: Damals habe ich begonnen, mich zu informieren. Über Operationen und eine mögliche Feminisierung meines Körpers. Die Reife dafür kam aber erst mit 60, vor sieben Jahren. Davor hatte ich Angst, meinen Beruf zu verlieren, alles zu verlieren, was ich hatte. Ich stand ja in den deutschen und auch den amerikanischen Medien in der Öffentlichkeit.

Es gibt ein trauriges Zitat von dir: "Ich habe gelernt, über Scherben zu gehen, und ich bin nicht daran zerbrochen."

ETCHIKA: Es gibt ein Lied von Marlene Dietrich, da heißt es: "Wenn ich gar zu glücklich wär, hätt' ich Heimweh nach dem Traurigsein." Da ist was Wahres dran. Ich bin es gewohnt, Schmerzen zu haben. Meine Psychiaterin hat mich mal sehr schön und gut beschrieben: Sie hat zu mir gesagt, dass all das, was ich erlebt habe, mich eigentlich hätte verbittert werden lassen müssen. Aber ich bin genau das Gegenteil. Ich liebe mein Leben, und ich bin jeden Tag dankbar, dass ich es heute in Wahrheit und Aufrichtigkeit leben darf. Mich hat das alles auch klüger und weiser gemacht. Das ist nicht nichts in dieser Welt.

2018 war es dann so weit. Du hast dich für eine Feminisierung, eine Hormontherapie und ein komplettes Outing entschieden. Gab es dafür einen konkreten Anlass? Eine Liebe?

ETCHIKA: Nein, überhaupt nicht. Es war mein bester Freund, der merkte, dass ich immer mehr und mehr kaputtging. Und er fragte mich die Fragen aller Fragen: Was hast du zu verlieren? Und da war mir klar: Ich kann nur gewinnen. Meine Freiheit. Ich bin dann von heute auf morgen nach Thailand - ohne zu wissen, dass ich neun Monate bleiben würde. In dieser Zeit hatte ich neun Operationen.

Wie fühlte sich diese Wandlung, Schritt für Schritt, an?

ETCHIKA: Ich begann mit einer Hormontherapie. Plötzlich merkst du, wie sich deine Haut verändert. Deine Muskeln werden weniger, du hast weniger Kraft, die Fettverteilung ändert sich. Und dann kamen die OPs. Hier wurde gehobelt (sie greift sich ins Gesicht), mein Adamsapfel wurde entfernt, damit die Männlichkeit aus dem Gesicht geht. Wangenimplantate, die Nähte werden von innen gesetzt. Dann kamen Busen und Po und ein Lippenlifting. Was ich im Slip habe, geht aber niemanden was an.

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© WOMAN / David Visnjic

Wir unterbrechen das Gespräch für die ersten Fotos. Etchika bittet mich, in ihre Garderobe zu kommen. Sie möchte sich für die Fotos nochmals umziehen. Ich solle sie beraten. Sie steht, nur mit Slip, vor mir, hat Brüste, eine schmale Taille, lange, schöne Beine. Sie sieht aus wie eine sehr durchtrainierte Frau. Sie will, dass ich das sehe. Sie schlüpft in ein weißes Spitzenkleid, legt eine schwere blaue Gliederkette um. Sie ist eine Diva. Ja, das ist sie.

Was macht für dich Frausein aus, Etchika?

ETCHIKA: Das Hauptmerkmal einer Frau ist ihre Gebärmutter. Sie kann Kinder bekommen.

Du hast aber keine Gebärmutter.

ETCHIKA: Nein, aber ich hätte gerne eine. Ich hätte am liebsten fünf Kinder, einen Hund, einen Garten. Ich glaube, ich wäre eine sehr spießige Frau.

Du hast ja auch deinen Vornamen geändert, inspiriert von Etchika Werner, einer Berliner Interior Designerin. Was steht in deinem Pass?

ETCHIKA: Am Papier bin ich eine Frau. In allen Dokumenten. Du, Euke, denkst nicht darüber nach, du bist einfach eine Frau. Männer denken auch nicht darüber nach, sind einfach Männer. Ich glaube, ich bin das dritte Geschlecht. Das ist meine Identität. Darüber möchte ich reden, aufklären. Für diese Community möchte ich Sprachrohr sein. Die Oprah Winfrey der Transgender.

Hast du dich eigentlich je mit deinem Vater ausgesöhnt?

ETCHIKA: Als ich bereits extrem erfolgreich mit meinem Box-Management war, besuchte er mich auf meiner Finca auf Mallorca. Er kam die Treppe runter vom Gästetrakt und umarmte mich das erste Mal seit über 40 Jahren.

Und hast du ihm vergeben?

ETCHIKA: Ich sag mal so: Da sind viele Narben, aber ich weiß auch, wie wichtig es ist, vergeben zu können. Ja, auf eine gewisse Weise habe ich das.

Du hast im Rahmen deiner Krankenpflegearbeit auch in der Sterbebegleitung gearbeitet und da Menschen erlebt, die kurz vor dem Tod sind. Die ringen mit dem, was sie nicht gelebt und erlebt haben. Was hast du da mitbekommen fürs Leben? Worum geht's letztlich?

ETCHIKA: Das Leben ist Fluch und Segen und voller Prüfungen. Wir sind alle Gäste auf diesem Planeten. Und was ich mit größter Bestimmtheit weiß: Verschiebe deine Sehnsüchte nicht. Lebe im Hier und Jetzt. Hol das Beste aus deinen Tagen. Du kannst das Gestern nicht verändern, aber du kannst das Heute so leben, dass du, wenn du morgen an gestern denkst, ein Lächeln im Gesicht hast. Heute bin ich voll im Glück. Man darf aber nicht übermütig werden.

Oder arrogant Arrogant?

ETCHIKA: Ja, manchmal geht's mit mir durch. Ich war unlängst in Berlin in einem großen Kaufhaus und musste pinkeln. Ich fragte eine Verkäuferin, wo denn die Toiletten sind. Sie drauf: Die Damentoilette oder die Herrentoilette? Ich drauf: Die für Chamäleons.

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