Wir verbringen unseren Alltag seit einem Jahr fast ausschließlich in unseren vier Wänden. Jetzt werden die Tage wieder länger, die Temperaturen steigen und die Sonne gewinnt an Kraft. Ausdauernde Spaziergänge mit FreundInnen sind wieder realistisch. Und die Gratis-Selbsttests ermöglichen sogar vorsichtige Hausbesuche. Man würde meinen, dass wir nicht mehr zu bremsen sind. Bereit, die Welt (so weit es geht) zurückzuerobern. Warum sind wir aber alle so verdammt müde?!
Wir sprechen hier nicht von der Frühjahrsmüdigkeit. Viele von uns sind auf sozialer Ebene völlig erschöpft. Dieses Phänomen nennt man auch "social fatigue". Es beschreibt den Umstand, dass man seine Energie aus dem Alleinsein und nicht aus der Gemeinschaft mit anderen bezieht.
Dabei wünschen wir uns eigentlich nichts sehnlicher zurück als die "alte Normalität". Jene Zeit, in der man sich nach einem langen Arbeitstag noch auf einen Cocktail getroffen, ganze Wochenenden mit den FreundInnen verbrachte und gemeinsam auf Urlaub gefahren ist. Jetzt wirkt jede Einladung zum gemeinsamen Spaziergang wie eine Teilnahme zum Marathon. Und nach dem Skype-Call mit der besten Freundin möchte man am liebsten ein dreistündiges Nickerchen machen ...
Allgemeine Überbelastung
Psychologin und Lebens- und Sozialberaterin Katharina Smutny teilt diese Beobachtung: "Ich denke, dass allgemeine Überbelastung und Erschöpfung zunehmen. 'Quetscht' man dann zusätzlich an einem stressigen Tag noch ein Treffen oder Gespräch mit rein, obwohl man eigentlich Ruhe bräuchte, kann dies zusätzlich auslaugen." Meldet man sich nur aus "Pflichtgefühl", saugt das zusätzlich an der Restenergie. In Coronazeiten spielen auch die Gesprächsthemen keine unwesentliche Rolle: "Wird vorwiegend über belastende Themen gesprochen – wie etwa die Pandemie – oder ist das Gespräch sehr einseitig, dann zerrt das zusätzlich an den Nerven."
Gewöhnungseffekt des Alleinseins
Die Expertin führt die Ermüdung in sozialen Situationen auf unsere veränderte Lebensweise zurück. Viele von uns haben das letzte Jahr in Isolation und nur mit wenig sozialem Kontakt verbracht. Das kann zu einem Gewöhnungseffekt führen, so Smutny. Trotzdem glaubt sie nicht, dass uns ein Treffen mit FreundInnen – selbst nach langer Abgeschiedenheit – überfordert. Der starke Kontrast zwischen Ruhe und Trubel sorgt für das Gefühl der Übermüdung. "Nach einem langen Urlaub in der Natur, wieder in die Großstadt zurückzukehren und plötzlich in der engen, überfüllten U-Bahn stehen – so ähnlich fühlt sich das an."
Die neue Entschleunigung
Auch unser Zeitempfinden habe sich im Laufe der Pandemie an die Situation angepasst und bei manchen sogar verlangsamt. "Nehmen wir mal an, ich bin schon länger im Home Office, kann mir die Arbeitszeit relativ selbständig einteilen, muss keinen zeitaufreibenden, stressigen Weg zwischen Büro und zu Hause zurücklegen. Das Afterwork fällt auch flach. Plötzlich kann ich Sachen langsamer angehen und mehr an mein Tempo anpassen. Und dadurch verändert sich auch mein Zeitgefühl", erklärt Smutny. Es ist also nicht verwunderlich, dass jene, die eine Entschleunigung erleben, es schwer finden, wieder in eine schnellere Lebensweise hineinzufinden.
Zurück zum Sozialleben
Haben wir das soziale Leben verlernt? "Nein, das ist zu sehr in uns gespeichert. Menschen sind soziale Wesen", so die Psychologin. Durch die eingeschränkte körperliche Nähe, durch Masken und durch die (Video)-Telefonie ist es für uns schwieriger geworden, die Mimik und Gestik unseres Gegenübers zu erfassen. Das strengt an! Trotzdem blickt Smutny positiv in die Zukunft: "Sobald wieder ein normales Zusammensein wieder möglich ist, wird man sich schrittweise und ganz natürlich wieder an das Leben, wie es vor Corona war, zurück gewöhnen."