Es heißt, dass nirgendwo sonst auf der Welt so viele Hundertjährige leben, wie auf der italienischen Insel Sardinien. Doch warum werden die Leute auf der Sonneninsel denn so alt? Was machen sie anders? Liegt es am Wetter? Am Meer? An der Ernährung? Oder gar der Lebenseinstellung? Die Lebens- und Gesundheitsberaterin Ulla Rahn-Huber ging dieser Frage nach und das Geheimnis der Langlebigkeit der Sarden. Dafür hat sie zahlreiche 100-Jährige getroffen, sie interviewt und mit örtlichen Wissenschaftlern über das Phänomen gesprochen. Ihre Erkenntnisse hat sie nun im Buch "Das Geheimnis der Hundertjährigen von Sardinien" veröffentlicht. Im Talk mit WOMAN spricht sie über ihre Zeit auf der Insel und die Lebensweise der Sarden.
WOMAN: Wie lange haben Sie auf der Insel gelebt, um den Lebensstil der Sarden zu erforschen?
Ulla Rahn-Huber: Um den Lebensstil der Sarden kennenzulernen, genügt es nicht, einfach die Insel zu besuchen. Ich beschäftige mich seit Jahren mit den "Blauen Zonen", also jenen Weltregionen, in denen eine besondere Langlebigkeit zu verzeichnen ist. Sehr viel Zeit fließt in die Vorbereitung einer solchen "Feldexpedition". Es gilt, mit den Wissenschaftlern, die das Phänomen erforschen, Verbindungen aufzubauen und einen umfangreichen Austausch mit ihnen zu pflegen. Es sind ganze Stapel von Studien zu lesen. Die Kontakte zu den Familien herzustellen, in denen die alten Menschen leben… Die Gesellschaft der sardischen Berge ist eine sehr geschlossene, ohne diese Vorarbeit wären wir vor verschlossenen Türen gestanden. Als wir dann im März und April auf der Insel waren, erschien uns das wie eine Erntezeit. Die sardische Gastfreundschaft ist sprichwörtlich, und nachdem die Türen bereits im Vorfeld geöffnet waren, wurden wir als Freunde empfangen und konnten so einen Einblick in das wirkliche Leben der Menschen gewinnen.

WOMAN: In ihrem ersten Buch schreiben sie über die Menschen aus dem japanischen Archipel Okinawa, wo die Leute ebenfalls sehr alt werden. Was haben diese beiden Orte gemeinsam?
Ulla Rahn-Huber: So unterschiedlich diese "Blauen Zonen" angesichts ihrer jeweils völlig anderen Kultur auf den ersten Blick erscheinen mögen, waren doch einige Faktoren identisch: Es werden in der traditionellen Lebensweise zum Beispiel keinerlei industriell verarbeitete Nahrungsmittel verwendet. Man weiß genau, was man auf dem Teller hat. In Okinawa ist der Fisch selbst gefangen, so wie auf Sardinien das Lamm selbst gezogen ist. Ob Reis oder Getreide, Gemüse, Obst, Fisch, Fleisch oder Käse – alles stammt aus eigenem Anbau, eigener Herstellung, eigener Zucht, eigenem Fang. Oder allenfalls vom Nachbarn, mit dem man dies oder das tauscht. Abgesehen vom Essen gibt es weitere Gemeinsamkeiten: In beiden Gesellschaften wird viel Wert auf den familiären und gesellschaftlichen Zusammenhalt gelegt, so dass Menschen im Alter ein tragfähiges Netz haben und nicht alleine bleiben. So etwas wie Ruhestand kennt man praktisch nicht – jeder arbeitet nach seinen Möglichkeiten bis zuletzt weiter. Und jeder der Alten - ob auf Sardinien oder in Okinawa – hat etwas, das man in der okinawischen Sprache als "ikigai" bezeichnet: Einen Grund zu leben, der einen jeden Morgen aufstehen lässt, um etwas Sinnvolles zu tun.

WOMAN: Und das, obwohl der Wohlstand in Österreich eigentlich höher ist...
Ulla Rahn-Huber: Die Menschen dort haben sich einerseits ihren traditionellen Lebensstil als Hirten und Bauern weitgehend bewahrt, andererseits erleichtern ihnen eine wesentlich bessere Versorgungslage und medizinische Versorgung und moderne Errungenschaften wie fließendes Wasser, Elektrizität und das Auto mittlerweile deutlich das Leben. Sie befinden sich damit genau an dem Kreuzungspunkt, an dem die Entbehrungen des früheren Lebens durch zunehmenden Wohlstand ausgeglichen werden, die damit einhergehenden Nachteile wie sitzende Lebensweise, ungesunde Ernährung, mediale Dauerberieselung, Vereinsamung usw. aber noch nicht greifen. Und genau das ist der Punkt, an dem sich das Zeitfenster der Langlebigkeit auftut.
WOMAN: Dabei müsste man annehmen, dass italienisches Essen nicht so gesund ist, oder? Pizza, Pasta und Co.?
Ulla Rahn-Huber: Mag sein, dass italienisches Essen nicht unbedingt gesund ist. Aber Sardinien ist nun einmal nicht Italien. In den Bergen im zentralen Osten, in den Regionen Ogliastra und Barbagia – und nur dort tritt das Langlebigkeitsphänomen auf – ernährt man sich wie man es von jeher tat: von dem, was Felder, Weiden und Gärten hergaben. "Tutto autentico" und "zero kilometre" – auf diese beiden Prädikate legen die Einheimischen großen Wert: Alles ist authentisch, also unverfälscht, und wird vor Ort in der reinen Umwelt ohne Einsatz von Chemie produziert. Genau das macht das Essen so gesund.

WOMAN: Trinken die Menschen auf Sardinien auch Alkohol? Oder ist das ein Tabu, um gesund zu bleiben?
Ulla Rahn-Huber: Oh ja, das Gläschen Cannonau, wie der sehr dunkle, schwere Rotwein heißt, gehört zum Leben der Sarden unbedingt dazu. So gut wie jeder Bauer auf Sardinien hat seinen eigenen Weinberg. Aber die Alten trinken maßvoll. Und wie wissenschaftliche Studien bestätigen, ist gerade Rotwein dank der darin enthaltenen natürlichen Pflanzenschutzstoffe sogar gut für die Gesundheit – vorausgesetzt, die Dosis stimmt.
WOMAN: Was gibt es denn bei den Sarden zum Frühstück?
Ulla Rahn-Huber: Ich muss bei Ihrer Frage an Maria Tegas (100) aus Talana denken, die wie viele dieser Menschen unter sehr armen Bedingungen aufgewachsen ist. Sie hätte jetzt lachend entgegengehalten: "Wenn es denn ein Frühstück gab …" Dennoch: In den Familien gehört es zur Tradition, quasi als Milchvorrat auf vier Beinen eine Ziege im Hof zu halten, und deren Milch gab (und gibt es heute noch) es zum Frühstück und darin eingebrockt ein wenig "Pane pistoccu", wie das harte, haltbare Sardenbrot der Berge heißt.
WOMAN: Und spätes Essen ist erlaubt?
Ulla Rahn-Huber: Die Sarden fragen nicht nach Erlaubnis, wann (oder was) sie essen dürfen! Gesundheitsexperten mögen noch so plausible Begründungen für diese oder jene Ernährungsregel geben – die Leute in den Bergen lachen über solche Theorien. Sie essen, wenn sie Hunger haben, und sie essen, was gerade da ist – aber bei den Alten sind die Portionen sehr bescheiden.
WOMAN: In Ihrem Buch beschreiben Sie auch die Lebenseinstellung der Sarden. Wie unterscheidet sich diese von unserer?
Ulla Rahn-Huber: Das Wichtigste: Die Familie ist den Sarden heilig. Egal, was kommt, man zieht an einem Strang. Im Zusammenspiel der Generationen bekommt die harte Arbeit, die das Selbstversorgerleben jedem Einzelnen abverlangt, damit einen tieferen Sinn. Und jeder weiß: Im Ernstfall bin ich nicht alleine – auch nicht im Alter. Im Gegenteil, die Alten sind der familiäre Mittelpunkt, um den das Leben kreist. Man hört hier keine Klagen. Die Menschen sind zufrieden. Sie finden immer einen Grund zu lachen. Von Verbitterung im Alter ist hier nichts zu spüren.
WOMAN: Auf Sardinien ist es viel sonniger als hierzulande. Klar, dass man da besser drauf ist. Wie können wir den Lebensstil der Sarden trotzdem nach Österreich holen?
Ulla Rahn-Huber: Leben wie ein Hirte auf Sardinien ist in einer modernen Wohlstandsgesellschaft sicher keine Alternative. Aber wir können uns entschließen (in manchen Fällen heißt das: wieder lernen), unser Essen wieder aus frischen Zutaten selbst zuzubereiten, statt Fertigpizza aus der Tiefkühltruhe aufzutischen, auch wenn das vielleicht bequemer ist. Und wir können bewusst um die Nachteile des modernen Lebensstils einen Bogen machen: Also mehr körperliche Bewegung in den Alltag bringen, mehr tatsächliche zwischenmenschliche Begegnungen suchen, statt in den Social Media virtuell "kontakten", uns mehr sinnvolle Tätigkeiten erschließen, die uns mit Herz und Seele ansprechen, als uns auf Fernsehen oder Shopping zu beschränken.

WOMAN: Gibt es bei den Menschen auf Sardinien eine Rollenteilung zwischen Mann und Frau?
Ulla Rahn-Huber: Die Rollenteilung ist bis heute sehr stark ausgeprägt, aber auch die Gleichberechtigung. Wir haben es hier mit einem Bauern- und Hirtenvolk zu tun. Die heute hochbetagten Männer waren früher beim Wechsel zwischen Sommer- und Winterweiden monatelange unterwegs. Das heißt: die Frauen waren daheim auf sich gestellt, ob bei der Feldarbeit oder bei der Versorgung ihrer Kinder. Sie verteidigten ihr Haus und Hof zur Not selbst mit der Waffe. Solche Frauen ordnen sich nicht einfach unter, wenn der Mann nach Hause kommt. Frauen haben im Haus das letzte Wort, die Männer fügen sich. Draußen haben sie das Sagen. Was das Interessante ist: Obwohl gemeinhin bekannt ist, dass Frauen länger leben als Männer, erreichen in den sardischen Bergdörfern gleich viele Männer wie Frauen ihren hundertsten Geburtstag. Ein weltweit einmaliges Phänomen. Hört her, Männer: Sucht euch starke Frauen, wenn ihr lange glücklich leben wollt!
WOMAN: Haben die Sarden viele Kinder?
Ulla Rahn-Huber: Und ob! Familien mit zehn Kindern sind keine Seltenheit. Wenn da an Festtagen mehrere Generationen an einem Tisch beisammen sitzen, ist schnell ein ganzer Saal gefüllt. Obwohl sich auch hier in der letzten Generation ein Wandel vollzogen hat und moderne Familien deutlich kleiner sind.
WOMAN: Wie sieht es mit dem Glauben aus? Welche Rolle spielt Gott?
Ulla Rahn-Huber: Hier sehen wir einen eklatanten Unterschied zwischen Frauen und Männern. An eine höhere Instanz glauben beide. Aber während Frauen sehr religiös im Sinne des katholischen Glaubens sind und gerade die Älteren viel Zeit mit dem Beten des Rosenkranzes verbringen, machen Männer um die Kirche eher einen Bogen. Sie verbringen so viel Zeit draußen in der Natur, dass sie ihren Gott irgendwo dort draußen finden.
Das Buch "Das Geheimnis der Hundertjährigen von Sardinien" von Ulla Rahn-Huber ist für Euro 19,99 Euro im Handel erhältlich oder kann Online beim mvg verlag bestellt werden.

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