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"The End": Verzweifelter Optimismus

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7 min

Nach einem selbst verschuldeten Umweltkollaps versucht eine Familie in einem Bunker ein Gefühl der Normalität aufrechtzuerhalten. Mit Tilda Swinton und Michael Shannon (l.).

©Felix Dickinson / Mubi
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Was kommt nach dem Ende? Joshua Oppenheimers neues Meisterwerk „The End“ ist ein bewegendes Drama-Musical über eine Familie, die den Weltuntergang überlebt hat. Mit Superstar Tilda Swinton als Hoffnung suchende Mutter. Ab sofort in den Kinos!

Die Welt ist untergegangen, Feuer haben den Planeten an der Oberfläche unbewohnbar gemacht. Aber es gibt Überlebende: Eine wohlhabende Ölmagnaten-Family samt Personal hat sich seit 25 Jahren in einem palastartigen Luxusbunker unter der Erdoberfläche eingesperrt. Die Mutter (Tilda Swinton), der Vater (Michael Shannon) und der 20-jährige Sohn (George MacKay) haben noch nie das Tageslicht gesehen. Sie hoffen darauf, sich selbst retten zu können. Ihre Angehörigen und Freunde mussten sie zurücklassen. Das Konstrukt hat nur blöderweise ein Ablaufdatum – es funktioniert nämlich genau so lange, bis eines Tages eine junge Frau vor ihrer Tür auftaucht und die vermeintlich heile Welt zwischen Biederkeit und Dekadenz auf den Kopf stellt. Der Sohn ist fasziniert von der Unbekannten. Er verliebt sich in sie und beginnt vermeintliche „Wahrheiten“ aus der alten Welt, die er nie kennengelernt hat, zu hinterfragen. Nach und nach entgleitet dem wohlhabenden Clan seine mühsam erarbeitete Idylle, die Spannungen nehmen zu, lange unterdrückte Gefühle von Reue und Groll zerstören das fragile Gleichgewicht der Familie.

Kritisches Musical


Es ist Joshua Oppenheimers erster Spielfilm. Seine Dokumentationen über den Genozid in Indonesien („The Act of Killing“ und „The Look of Silence“) waren für Oscars nominiert. „The End“ schrieb der amerikanische Autor zusammen mit dem Dänen Rasmus Heisterberg. Die IMDB verortet die 148 Minuten lange Story zwischen Fantasy, Science-Fiction und Musical. „Ich wollte ein Golden-Age-Musical über eine der letzten menschlichen Familien schreiben, die Jahrzehnte nach einer Katastrophe, in die sie selbst verwickelt war, mit Zweifeln, Sinnlosigkeit und Schuldgefühlen zu kämpfen hat“, so Oppenheimer. Richtig gelesen: „The End“ (ab 28. März im Kino) ist eine postapokalyptische Musical-Vision, in der ganz schön viel geträllert wird. Der fast schon zärtlich anmutende Gesangskitsch steht der düsteren Realität, in der Lebenslügen platzen, gegenüber: Wäre der finale Klimakollaps vielleicht doch noch aufzuhalten gewesen? Wer trägt dafür Verantwortung? Und wie war das mit dem Vater, der in der Zeit vor der Katastrophe als Großindustrieller seinen absurd großen Reichtum mithilfe fossiler Energien anhäufte? Hat er womöglich falsche Entscheidungen getroffen? Es sind schwierige Tatsachen, denen sich die Familie stellen muss.

„Wenn die Figuren singen, spüren wir ihr Seelenleben auf eine sehr körperliche Weise. Die Songs verleihen dem Film eine emotionale Tiefe, einen versöhnlichen Kontrapunkt zur Trostlosigkeit, eine Intimität und Wärme“, erklärt der amerikanische Autor seinen Zugang. Musicals seien für ihn „unglaubliche Empathiemaschinen“.

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Oscarpreisträgerin Tilda Swinton

 © Everett Collection / Picturedesk.com

Perfect Match

Wie immer atemberaubend auf der Leinwand ist die schottische Oscarpreisträgerin Tilda Swinton, 64, die zuletzt bei der Premiere des Films auf der Berlinale mit dem Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde. In „The End“ gibt sie eine in sich gekehrte Mutter, die früher einmal am russischen Bolschoi-Theater als Ballerina getanzt hat. Es ist das erste Mal, dass man die Schauspielerin in einem Film singen hört. Ein Experiment, über dessen Ausgang sich Regisseur Oppenheimer anfangs auch nicht ganz im Klaren war. Schließlich wusste er zuerst weder, ob sie singen könne, noch ob sie wollen würde. Er war sich allerdings sicher, dass Swinton „die Definition von Furchtlosigkeit“ ist, die er für dieses Filmmeisterwerk gesucht hatte. Das Singen beschreibt die 64-Jährige als eine durch und durch nostalgische Erfahrung: „Als würde ich wieder am Anfang stehen – ich hatte noch nie in einem Film gesungen. Es war, als wäre ich im Schulchor, ich fand das toll“, schwärmt sie. Dass Swinton die perfekte Mutter verkörpern würde, spürte Oppenheimer vom ersten Augenblick an: „Es herrschte zwischen uns und in unseren Gesprächen eine starke Chemie. Ihre Besetzung schien unausweichlich, geradezu als hätte mich das Schicksal zu dieser Person geführt.“

Akt der Hoffnung

Die Dreharbeiten dauerten vier Monate und stellten die ganze Besetzung vor „unglaubliche Herausforderungen“, so Oppenheimer. „Die Themen holten alle unweigerlich aus ihrer Komfortzone heraus.“ Denn es ist eine beunruhigende Frage, die seiner Geschichte zugrunde liegt: Wie lange lässt sich der Status quo aufrechterhalten? Aber auch: Wie viele Variationen der Selbsttäuschung gehen sich in der massiven Überlänge dieses Films aus? Die Bespaßungsmaschinerie des elitären Familienclans läuft über zwei Stunden auf Hochtouren. Es wird im Pool trainiert, über Wein und Kunst diskutiert, in bizarren Partykostümen gefeiert, getanzt und natürlich immer wieder gesungen. „The future is bright“, lautet die Durchhalteparole.

Was Oppenheimer hofft, dass das Publikum von seiner „mahnenden Erzählung“ mitnehmen wird? „Einen Film wie diesen zu sehen und dabei sein Herz zu öffnen, ist ein Akt der Hoffnung. Es zeigt die Bereitschaft, sich herausfordern zu lassen und sich zu ändern. Es ist für uns noch nicht zu spät, uns zu ändern“, gibt er sich zuversichtlich. „Ich wünsche mir, dass meine Filme wie ein Spiegel sind, in dem wir uns durch Empathie selbst entdecken können. Dass wir unsere wichtigsten und geheimnisvollsten Wahrheiten erkennen, unsere schönsten, aber auch schmerzlichsten Seiten, die wir normalerweise nur schwer in Worte fassen können. Und daraus lernen wir.“

Über die Autor:innen

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