
„Das Leben hat so viel mehr zu bieten als nur Talent“, ist Karen Rinaldi überzeugt. Die 63-jährige Amerikanerin liebt es, zu surfen. Und ist ziemlich schlecht darin. Warum es sich lohnt, Leistungsgedanken loszulassen.
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Eines meiner schönsten Erlebnisse hatte ich in Costa Rica“, erzählt Karen Rinaldi begeistert. „Als ich Mühe hatte, eine Welle zu erwischen, paddelte ein junger Mann, den ich nicht kannte, auf seinem Surfboard hinter mich und fragte: ,Rechts oder links?‘ – also in welche Richtung ich auf der Welle fahren wollte. Ich antwortete ,links‘, und er wartete, bis eine Welle kam, und gab mir dann einen sanften Schubs. Aus purer Großzügigkeit!“ – Wenn die 63-jährige Amerikanerin vom Surfen erzählt, scheint alles um sie herum nebensächlich zu sein. Rinaldi ist ganz im Moment, als würde sie im Wasser sitzen und nicht vor ihrem Laptop in New York City. „Ich weine immer noch, wenn ich diese Geschichte erzähle“, sagt sie. Die Anekdote macht deutlich: Wellenreiten ist für Rinaldi viel mehr als nur ein Hobby. Sich den Wetsuit anzuziehen, mit dem Surfboard ins Meer hinauszupaddeln und beim Anrollen einer passenden Welle jeden einzelnen Muskel anzuspannen, um aufs Brett zu springen und die Wellenwand entlang zu gleiten, wurde zu einer Leidenschaft, die ihr bereits einige Lektionen erteilt hat.


Auf die nächste Welle warten: Seit über 20 Jahren paddelt Karen Rinaldi aufs Meer hinaus. Trotzdem surft sie nur mittelmäßig – und fand im Dilettantismus große Bereicherung.
© PrivatNur nicht aufgeben
Vor allem wurde ihr durch das Surfen in den letzten 23 Jahren bewusst: Man muss nicht in allem, was man gern tut, richtig gut sein. Im Gegenteil. Für die 63-jährige Verlegerin und Autorin ist es sogar bereichernd, immer wieder kläglich zu scheitern, sagt sie. „Ich habe kein Talent dafür, aber das hindert mich nicht daran.“ In den Wellen vor New Jersey und Costa Rica surfte Rinaldi in den vergangenen Jahren bis zu acht Monate pro Jahr. Dennoch: Ihre Fortschritte waren bescheiden. Es dauerte fünf Jahre, bis die US-Amerikanerin ihre erste „richtige“, ungebrochene Welle surfte. Fünf Jahre voller Stürze, Muskelkater und Frustration. Doch statt aufzugeben, machte Rinaldi ihren Makel zur Marke: Im Jahr 2017 veröffentlichte die Amateursurferin in der „New York Times“ die Kolumne „It’s Great to Suck at Something“ („Es ist großartig, in etwas schlecht zu sein“). Sie ließ Kappen und Wasserflaschen damit bedrucken – und framte Scheitern zu etwas Erstrebenswertem. Rinaldi ist überzeugt: Wer nie versagt, verpasst wunderbare Erfahrungen. „Ich wurde von meiner Mittelmäßigkeit zu Tränen gerührt“, gestand sie in einem ihrer Texte. Mit ihrer ungehemmten, selbstironischen Art traf Rinaldi einen Nerv: Die Kolumne wurde so erfolgreich, dass sie dem Thema 2019 ein Buch widmete. In „Scheitern erlaubt! Warum uns gerade das Nicht-Perfekte weiterbringt“ (Goldmann, € 9,99) zeigt die Autorin auf, was man gewinnt, wenn man nicht in allem, was man tut, nach Erfolg und Leistung strebt. Die 63-Jährige will damit auch andere zu mehr Leichtigkeit animinieren. Sie ist überzeugt: „Das Leben hat so viel mehr zu bieten als nur Talent.“


Was einfach aussieht, erfordert viel Körperarbeit – und mentale Stärke: Um Wellen lesen zu lernen und zu surfen, braucht es jahrelanges Training. Und gute Wetterkonditionen.
© Getty ImagesScheitern als Rebellion
Sich in unserer gegenwärtigen Leistungsgesellschaft mit der eigenen Mittelmäßigkeit auseinanderzusetzen – und sich damit zufriedenzugeben, mutet beinah rebellisch an. „Wir sind Workaholics“, kritisiert Rinaldi, „führen ein zielfixiertes, gnadenlos leistungsorientiertes Leben, durch das wir viel gewonnen, aber auch sehr viel verloren haben.“ Geduld, Bescheidenheit, Selbsterkenntnis etwa. Die Autorin rät, gewohnte Perspektiven zu hinterfragen: „Was würde passieren, wenn wir unser Bedürfnis nach Schulterklopfen und Belohnung einmal vergessen, wenigstens für ein Weilchen, und der Tatsache ins Auge sehen, dass wir alle in bestimmten Bereichen Nieten sind?“ Sie selbst ist das beste Beispiel dafür, dass es auf eine andere Art gewinnbringend sein kann, sich im Straucheln zu üben.
Andererseits: Warum sollte man in der wenigen Zeit, die einem zwischen Work und Life übrig bleibt, etwas verfolgen, das einem einfach nicht gelingen will? Sich mit dem eigenen Frust immer wieder aufs Neue auseinandersetzen? Das lässt sich wohl nur aushalten, wenn irgendwo dazwischen ein Funken Hoffnung aufblitzt. „Ich war so oft kurz davor, aufzugeben“, gibt Rinaldi selbst zu. „Aber dann kam dieser eine Moment, in dem ich eine Welle erwischte, und plötzlich war alles klar. Es war das süchtig machendste Gefühl, das ich je hatte.“ Diese Erfolgsmomente rief sich die 63-Jährige immer wieder in Erinnerung. Heute ist die Verlegerin überzeugt, „dass genau dort das Glück liegt, wo wir damit leben können, dass wir mal nicht überragen.“ Wer es zulässt, auf diese spielerische Weise ganz im Hier und Jetzt zu sein, erlebt ihrer Meinung nach eine neue Form von Zufriedenheit – ganz ohne den Druck, performen zu müssen. „Hinzuschmeißen, bevor wir überhaupt losgelegt haben, ist die eigentliche Tragödie“, erklärt sie. Lassen wir etwas sein, weil wir es nicht sofort beherrschen, ersparen wir uns zwar die Erfahrung, darin nicht gut zu sein. Doch die US-Amerikanerin glaubt, dass wir dadurch viel mehr verlieren als gewinnen: „Wir fügen der Landkarte unseres Daseins einen weiteren weißen Fleck hinzu. Erwachsensein wird so zu einer Art Ansammlung weißer Flecken. Zu einer strategischen Wachstumsbremse, um die herum all jene Bereiche wachsen, in die wir uns vor Angst nicht hineinwagen.“
Ich wollte erleben, wie es sich anfühlt, etwas nicht sofort zu können – und trotzdem dranzubleiben.
Die Macht der Ausdauer
Um sich im Scheitern zu üben, gebe es jedoch weitaus einfachere – und sicherere – Maßnahmen, als ins offene Meer hinauszupaddeln. Auf die Frage, warum Rinaldi sich ausgerechnet einen Sport aussuchte, der neben Ausdauer, Balance und schneller Reaktionsfähigkeit vor allem jahrelanges Training erfordert, antwortet sie: „Ich könnte sagen, dass es die Liebe zum Meer ist, die mich antreibt. Oder der Wunsch, meinen Körper herauszufordern. Aber die Wahrheit ist: Es geht um etwas Tieferes. Ich wollte lernen, mit meiner eigenen Unzulänglichkeit umzugehen. Ich wollte erleben, wie es sich anfühlt, etwas nicht sofort zu können – und trotzdem dabeizubleiben.“ Ihre erste Surfstunde nahm sie mit 40 am Strand in New Jersey, wo sie mit ihrem Ex-Mann und ihren beiden Töchtern lebte. „Viel zu alt“, denkt sie rückblickend. „Ich war außer Form, Mutter von zwei kleinen Kindern, führte ein Unternehmen und war erschöpft.“ Sie hatte weder Vorerfahrung mit Brettsportarten, noch Ahnung, worauf sie sich einließ.


Rinaldi hält Scheitern für ein Gegenmittel bei Selbstüberschätzung: „Wenn ich sage, dass ich schlecht bin, dann nicht, um mich runterzumachen, sondern um mir zu vergeben, nicht perfekt zu sein.“
© Caitlyn OchsPerspektivenwechsel
Warum sie es dennoch probierte? „Ich weiß nicht genau, warum, aber das Bild, auf einer Welle zu gleiten, hatte sich in meinem Kopf festgesetzt.“ Sie buchte eine Surfstunde, um es abzuhaken – „und dann wurde es zu einer Obsession“. Ab dem Moment, in dem sie mit dem Brett im kniehohen Wasser paddelte, sei sie süchtig gewesen. Sie stand auf ihrem Board, eine winzige Welle trug sie zum Ufer – und sie wusste, dass sie wiederkommen musste. Im Surfen besser werden zu wollen, wirkte sich schließlich auch auf andere Lebensbereiche aus: „Ich begann zu trainieren und mir bewusst Zeit für mich selbst zu nehmen.“ Das Wellenreiten wurde für Karen Rinaldi lebenswichtig. Das erkannte sie, als bei ihr mit 52 Jahren invasiver Brustkrebs diagnostiziert wurde. Ihr Leben war nicht mehr vom Paddeln geprägt, sondern von Chemotherapie, Operationen und einer Mastektomie. „Ich dachte an nichts anderes als daran, draußen auf dem Wasser zu sein“, erinnert sie sich. „Neben meinen Kindern wollte ich vor allem für das Surfen weiterleben.“ Sich auf spielerische Weise ihrem Straucheln hinzugeben, habe ihr in der schweren Zeit geholfen, eine neue Perspektive zu finden.


Rinaldi empfindet beim Straucheln in den Wellen vor allem eines: Freiheit. „Surfen lehrt dich Demut“, sagt die 63-jährige US-Amerikanerin. „Du kannst alles planen, alles vorbereiten – und dann macht das Meer, was es will.“
© Getty ImagesRaum für Wachstum
Karen Rinaldis Geschichte zeigt vor allem eines: Wer sich selbst genehmigt, an etwas zu scheitern, gibt sich Raum zu wachsen. Die US-Amerikanerin glaubt sogar, dass wir empathischer werden, je öfter wir uns mit unserem eigenen Versagen konfrontieren: „Wenn es uns gelingt, von schnellen Urteilen zu mehr Geduld zu wechseln, könnten wir einander vielleicht ein wenig mehr helfen – und ein ganzes Stück verständnisvoller werden.“ Durch das Surfen sei sie letztlich nicht cooler geworden, aber freier. In den vergangenen 20 Jahren hatte sie dabei viele persönliche Aha-Momente. In den Wellen vor der Küste Costa Ricas etwa, dass „Hilfe, wenn man sie am wenigsten erwartet, eines der schönsten Geschenke ist“.