
Feminismus und Religion – ein Widerspruch? Der Kinofilm „Girls & Gods“ zeigt ab 10. Oktober außergewöhnliche Frauen und diskutiert mit ihnen über Macht und Freiheit. Im Zentrum der Doku steht die ukrainische FEMEN-Aktivistin und Autorin Inna Shevchenko.
Sie ist eine der mutigsten Frauen der Gegenwart: Inna Shevchenko. Aktivistin, Schriftstellerin und Mitbegründerin der internationalen feministischen Bewegung FEMEN, die in der Ukraine entstand und für ihre politischen Kunst- und Protestaktionen bekannt ist. Seit 2013 lebt die 35-Jährige in Paris im politischen Asyl. Am 10. Oktober startete „Girls & Gods“ im Kino – eine Dokumentation von Arash T. Riahi und Verena Soltiz, in der Shevchenko auf unterschiedliche Frauen trifft und den Dialog sucht: Gläubige, Theologinnen, Aktivistinnen und religiöse Feministinnen, die ihren Glauben verteidigen. Im Interview mit WOMAN spricht die Aktivistin über ihren Wechsel vom Protest zur Begegnung. Während der Dreharbeiten lernte sie, Widersprüche auszuhalten, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Menschen zu begegnen, denen sie sich früher verschlossen hätte ...
Was war die Idee hinter „Girls & Gods“?
Die Geschichte, die wir erzählen wollten, war: Was passiert, wenn mutige Frauen versuchen, religiöse Institutionen von innen heraus zu verändern? Denn es gibt keine einheitliche religiöse Erfahrung – selbst innerhalb einer Religion existieren viele Ansätze. Diese Pluralität wollten wir zeigen. Unsere Leitidee war, Widersprüche sichtbar zu machen. Denn erst dadurch werden echte Diskussionen möglich. „Girls & Gods“ ist ein Debatten-Film.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Protagonistinnen ausgewählt?
Wir suchten Frauen, die komplexe, widersprüchliche Welten verkörpern: eine Priesterin, eine verschleierte Feministin, eine Rabbinerin, eine Ex-Muslimin, eine queere Gläubige. So unterschiedlich sie sind, in einem Punkt sind sie sich einig: Kein Gott darf Frauen ihre Rechte nehmen oder sie den Männern unterordnen. Dafür wollen sie sorgen, koste es, was es wolle.
Welche Probleme sehen Sie in den drei großen monotheistischen Religionen?
Alle haben sich mit patriarchaler Macht arrangiert. Der weibliche Körper gilt als verdächtig statt heilig, Frauenstimmen werden reguliert oder ausgelöscht.
Wo zeigt sich das am stärksten?
Wenn Religion mit staatlicher Macht verschmilzt. In Afghanistans Geschlechter-Apartheid oder der Sittenpolizei im Iran erleben wir die brutalsten Ausformungen. Aber auch in Demokratien prägen religiöse Ideologien Gesetze und beschneiden Frauenrechte – ob durch Abtreibungsverbote in Polen oder den USA beziehungsweise durch die Überwachung weiblicher Autonomie im Namen von Werten.
Diese Beispiele zeigen, wie Religion Macht absichert. Sind diese Strukturen wirklich so unerschütterlich, wie alle immer behaupten?
Kein Imperium ist für immer. Diktatoren sterben, Kirchen zerfallen, selbst Götter werden vergessen. Diese Strukturen halten sich durch Angst – vor Veränderung, vor Verlust, vor Frauen, die nicht mehr schweigen wollen. Ich glaube, wenn wir alle den Zusammenbruch nicht mehr fürchten, können wir Neues aufbauen.
Kann Feminismus religiös sein?
Feminismus und religiöses Dogma sind unvereinbar. Aber man kann gläubig und Feministin sein – das habe ich gelernt. „Girls & Gods“ zeigt genau diese Nuancen.
Woran glauben Sie?
Ich bin Aktivistin und damit auch Gläubige. Ich glaube an Freiheit – kompromisslos und komplex. An die Würde der menschlichen Stimme, die zittert und trotzdem spricht. An Kunst, die zuerst schneidet, bevor sie heilt. An die Wahrheit, auch wenn sie hässlich ist. Und ich glaube an Frauen – nicht als Identität, sondern als Kraft.


Neue Blickwinkel. Kann Religion selbst-ermächtigend für Frauen sein? Inna Shevchenko mit Mitgliedern der Vereinigung römisch-katholischer Priesterinnen in Linz.
© Golden Girls FilmproduktionWas bedeutet für Sie Feminismus?
Er ist der Kampf für Würde, Freiheit und Gleichheit – auch in Moscheen, Synagogen und Kirchen. Er lebt von jenen, die den Verrat der eigenen Traditionen an den Frauen benennen. Die Frage ist nicht, ob Feminismus Religion dienen kann, sondern ob Religion vom Feminismus transformiert werden kann. Dafür braucht es Ketzerei und Zärtlichkeit. Es braucht Ungehorsam und die Bereitschaft, den Komfort des geerbten Schweigens aufzugeben.
Sie sind als feministische Aktivistin für Ihre radikalen Proteste bekannt. Was war die größte Herausforderung beim Wechsel vom Protest zum Dialog?
Zuzuhören, ohne kleiner zu werden. Raum zu öffnen – nicht für Einigkeit, sondern dafür, dass Wahrheit entsteht, auch wenn sie widersprüchlich ist. Protest hat mir eine Stimme gegeben. Diese Dialoge haben mich Präsenz gelehrt. Die wahre Herausforderung dabei ist, beides auszuhalten: den Schrei und die Stille.
Welche Perspektiven hat der Film Ihnen eröffnet?
Ich habe gelernt, dass echter Dialog nicht sanft ist, sondern unbequem. Er stellte meine Überzeugungen über Feminismus, Glauben, Tradition – und sogar über den Zweifel selbst – infrage. Ich habe mit Ansichten gerungen, die mir fremd waren, und trotzdem Gemeinsamkeiten gefunden. Zwischen Frauen, die wie ideologische Gegensätze erscheinen – Gläubige und Atheistinnen, Hijab-Verteidigerinnen und säkulare Rebellinnen –, wurde eines klar: Unterdrückung ist überholt. Diese Überzeugung hat uns geeint.
Während der Dreharbeiten sind Sie Mutter geworden. Welche Spuren hat das in Ihnen hinterlassen?
Mutterschaft hat mich aufgebrochen – körperlich und sprachlich. Sie macht dich hyperbewusst dafür, was du weitergibst, nicht nur genetisch, sondern ideologisch. Meine Tochter weiß noch nicht, was Religion oder Politik ist, aber sie spürt Gerechtigkeit. Sie fragt schon: „Warum sagen sie: ,Mädchen dürfen nicht …‘?“ Das hat die Dringlichkeit des Films persönlicher gemacht. Ich spreche jetzt nämlich nicht mehr nur für meine Generation.


Kämpferin. Die ukrainische Aktivistin Inna Shevchenko zog nach politischer Verfolgung in der Ukraine und Belarus ins Exil nach Frankreich.
© Elsa OkazakiWas kann jede:r im Kleinen tun, um die Welt zu einem gerechten Ort zu machen?
Dort anfangen, wo es wehtut. Dort sprechen, wo es gefährlich ist. Den Komfort verweigern, der mit dem Schweigen anderer erkauft ist.
Was haben Sie durch die Begegnungen im Film über sich selbst gelernt?
Dass ich keine Feinde mehr brauche, um meine Überzeugungen zu bestätigen. Dass ich Menschen begegnen kann, von denen ich mich früher abgewandt habe. Nicht, weil ich die Seiten gewechselt hätte, sondern weil ich stärker geworden bin. Ich habe Frieden damit geschlossen, niemals ganz im Frieden zu sein. Überzeugung ist kein Zufluchtsort, sie ist ein Feuer. Und ich habe gewählt, darin zu leben – mit offenen Augen.
Was bleibt als Kernbotschaft des Films zurück?
Das Heilige gehört niemandem. Niemand hat das Monopol auf Moral, Freiheit oder Gott – schon gar nicht jene, die Strukturen auf Schuld und Scham errichtet haben. Wenn das Göttliche existiert, dann nicht über uns, sondern zwischen uns.
Hadern Sie manchmal mit der Last, die Ihr Weg mit sich bringt?
Ja. Aktivismus bedeutet Einsamkeit. Es ist eine bewusste Entscheidung: im Feuer stehenzubleiben, auch wenn niemand zusieht. An manchen Tagen frage ich mich: Was wäre, wenn wir alle aufhören zu kämpfen? Die Antwort erschreckt mich – und deshalb mache ich weiter.
Woraus ziehen Sie Kraft, um weiterzumachen?
Aus dem Widerstand. Der Kunst. Den Gesichtern der Frauen, die ich gefilmt habe. Den Fragen meiner Tochter. Den Menschen in der Ukraine, die selbst inmitten der Zerstörung immer noch wählen, wieder aufzubauen, zu lieben, zu träumen. Sie trocknen ihre Tränen mit der einen Hand – und pflanzen mit der anderen Sonnenblumenkerne.
