
Otrovertierte Menschen denken über den Tellerrand hinaus, behalten ihre Ideen aber oft für sich. Daher bezeichnet Kaminski sie als "sanfte Rebellen".
©StocksyNicht jeder Mensch braucht ein „Wir“. Der New Yorker Psychiater Dr. Rami Kaminksi erklärt, warum Otrovertierte ohne Gruppe ein erfülltes Leben führen können.
Viele Menschen tragen stolz die Farben ihres Fußballvereins, finden Trost in der Gemeinschaft und verstehen sich als Teil eines Kollektivs. Kurz: Sie gehören einfach dazu. Andere hingegen kennen dieses Empfinden nicht. Zwar stehen sie mitten im Jubel, feiern mit, doch fühlen sie sich nie wirklich einer Gruppe zugehörig. Für sie hat der New Yorker Psychiater Dr. Rami Kaminski, mehrfach ausgezeichnet und international anerkannt, einen Begriff jenseits von Intro- und Extroversion geprägt: Otroversion. „Der entscheidende Unterschied“, sagt Kaminski, „ist die Frage der Zugehörigkeit. Ein Otrovert gehört nicht zu einer Gruppe. Er oder sie zeigt, dass man auch ohne emotionale Bindung an ein Kollektiv tiefe Beziehungen, dauerhafte Verbindungen und ein erfolgreiches Leben haben kann.“
Kaminski weiß, wovon er spricht: „Ich bin selbst ein Otrovert. Meine Kindheit war normal, ich war kontaktfreudig, beliebt, hatte gute Freunde und mochte die Schule. Niemand, auch ich selbst nicht, hätte mich für anders gehalten. Doch innerlich fühlte ich mich anders: Ich hatte keine Leidenschaft für Sport, Musikbands, Partys. Ich tat zwar so, als wäre ich Fan einer Mannschaft, ging zu Rockkonzerten, jubelte mit, aber ich hatte keinen Spaß daran. Auch zu Sommercamps oder Ausflügen ging ich nur, um dazuzugehören. Mit der Zeit fiel es mir aber immer schwerer, eine Persönlichkeit aufrechtzuerhalten, die nicht wirklich ich selbst war, nur um beliebt zu sein.“
Vom Gefühl zum Begriff
Als Kaminski Psychiater wurde und Patient:innen von ihren Gefühlen erzählten, erkannte er: Anderen geht es ähnlich. „Ich merkte: Ich bin nicht allein.“ So begann seine Reise: „Ich glaubte, dass es Menschen wie mir helfen könnte, ein authentisches und erfülltes Leben zu führen, wenn man diesem Phänomen einen Namen gibt und bestimmte Kriterien festlegt.“ Darum erfand der Psychiater den Begriff „Otroversion“. Ein Kunstwort, das an Jungs Psychologie erinnert und nicht übersetzt werden muss. „Auch wenn es nur ein Name ist, trifft er den Kern der Otrovertierten – derjenigen, die in eine andere Richtung blicken.“ Außerdem gründete Kaminski das „Otherness Institute“ und veröffentlichte das Buch „Wie schön es ist, nicht dazugehören zu müssen“ (Kailash, € 19,–).
Für Kaminski ist Otroversion keine Schwäche, sondern eine Stärke. „Otrovertierte sind frei vom Gruppendenken. Sie sehen die Welt aus ihrem persönlichen Blickwinkel. Das ermöglicht, ein Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten, statt unreflektiert den Erwartungen zu folgen.“ Er erinnert sich an eine Begebenheit aus seiner Laufbahn: „In der Mitte meiner Karriere wurde mir eine prestigeträchtige Position angeboten, die jedoch stark von akademischer Politik geprägt war – etwas, das mich nie interessiert hat. Ich lehnte höflich ab. Mein damaliger Lehrer, zugleich der Vorsitzende, war fassungslos: ,Sind Sie verrückt? Die meisten würden töten, um diesen Posten zu bekommen.‘ Genau das war der Grund, warum ich ihn nicht wollte. Für mich war es die richtige Entscheidung – und ich ließ mich von keinem anderen Argument umstimmen.“
Was ist der Unterschied?
Extrovertiert
So werden Menschen genannt, die Energie aus Gruppen und Begegnungen schöpfen. Sie fühlen sich im „Wir“ zu Hause, passen sich bereitwillig an und erleben Zugehörigkeit nicht als Belastung, sondern als Quelle von Lebenskraft, Freude und Identität.Introvertiert
Auch für Introvertierte ist Zugehörigkeit relevant, doch sie erleben sie anders. Sie gehören dazu, schöpfen aber ihre Energie nicht aus dem „Wir“, sondern aus dem Rückzug. Gemeinschaft bedeutet für sie eher Anstrengung, weshalb sie Nähe sehr selektiv wählen.Otrovertiert
Otrovertiert nennt Kaminski jene Menschen, die sich selbst inmitten von Gruppen nicht wirklich zugehörig fühlen. Sie können beliebt sein, Freundschaften haben, mitfeiern – doch das „Wir“ bleibt ihnen fremd. Ihr Blick richtet sich konsequent nach außen, nie ins Kollektiv.
Kindheit und Konditionierung
Von Geburt an, so Kaminski, seien wir eigentlich „unaffiliated“, also ohne Zugehörigkeit. Erst Erziehung, Schule und Kultur lehren uns, Teil einer Gemeinschaft zu werden. Eltern rät er: „Zwingen Sie Ihr Kind nicht, sich anzupassen, wenn es nicht will. Ich vergleiche Otroversion gerne mit Linkshändigkeit. Man kann alles tun, was auch andere können, und meist fällt es auch überhaupt nicht auf. Problematisch wird es erst, wenn man gezwungen wird, die andere Hand zu verwenden. Dann stößt man zwangsläufig auf Schwierigkeiten, die Rechtshänder nie erleben. Ein otrovertiertes Kind zur Anpassung zu drängen, gleicht genau diesem erzwungenen Wechsel: Es ist unnötig und schafft mehr Probleme, als es je zu lösen vermag.“
Braucht die Welt in Zeiten von Filterblasen und Fanatismus nicht mehr Zugehörigkeit? Kaminski widerspricht: „Die Vorteile von Gruppen sind unbestreitbar. Aber Otrovertierte spüren, wenn Gruppendenken kippt. Sie schlagen Alarm, wenn Toleranz in Fanatismus umschlägt.“ Denn wo Zugehörigkeit ins Extreme kippt, entsteht ein gefährliches „wir gegen sie“. Außenseiter werden entmenschlicht, Grausamkeit erscheint erlaubt. So entsteht „moral outsourcing“: Menschen überlassen ihr Gewissen der Gruppe – mit fatalen Folgen blinder Härte.
Man darf anders sein, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Sie brauchen keine Erlaubnis, Sie selbst zu sein.

Der New Yorker Psychiater Dr. Rami Kaminski prägte den Begriff "Otroversion" für einen Persönlichkeitstyp, der sich von Gruppen distanziert.
© PrivatUnterschätztes Phänomen
Wie viele Otrovertierte es genau gibt, weiß Kaminski nicht. Doch seit der Veröffentlichung seines Buchs melden sich täglich Menschen beim „Otherness Institute“. „Viele schreiben, sie hätten sich ihr Leben lang fremd gefühlt – und plötzlich einen Namen dafür.“ Was wünscht er sich für die Zukunft? „Dass Menschen, die nicht dazugehören, eine andere Perspektive auf ihr Leben bekommen. Die Gaben im eigenen Otrovertiertsein zu erkennen, kann einen Weg zu Erfolg und Zufriedenheit eröffnen – ganz ohne sich einer Gruppe anschließen zu müssen.“
Kaminskis Botschaft ist einfach und radikal zugleich: Man darf anders sein, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Oder, wie er sagt: „Sie brauchen keine Erlaubnis, Sie selbst zu sein.“
Selbsttest: Otroverses Traumfräulein
Hätte mich noch vor ein paar Wochen jemand gefragt, ob ich ein otrovertierter Persönlichkeitstyp sei, hätte ich wohl nur gelacht: „Otro… was bitte?“ Durch die Lektüre von Dr. Kaminskis Buch hörte ich zum ersten Mal von diesem Begriff. Praktischerweise liefert der Psychiater auch gleich einen Selbsttest dazu – hinten im Buch. Bis dahin hätte ich mich selbst irgendwo zwischen introvertiert und eigenbrötlerisch verortet, oft in meiner eigenen Gedankenwelt versunken. Oder, wie meine Mutter es nannte: ein „Traumfräulein“, das die Außenwelt stundenlang vergessen kann. Gleichzeitig war da aber immer eine ausgesprochene Skepsis gegenüber Autoritäten – eine Haltung, die mir in der Jugend so manche unangenehme Situation bescherte, gepaart mit einem fast fanatischen Sinn für Gerechtigkeit. Und was sagt der Test? Das Ergebnis war eindeutig: otrovers. Beim Lesen hatte ich einige Aha-Momente. Nicht in allem habe ich mich wiedergefunden – teils, weil es nicht zutrifft, teils, weil es mir unangenehm ist, dass es das tut. Schließlich bin auch ich in dem Bewusstsein aufgewachsen, wie wichtig es ist, dazuzugehören. Doch eines ist mir klar geworden: Man muss nicht überall dazugehören, um im Leben wirklich anzukommen.


