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Nahtoderlebnis: "Ich sah meinen Körper plötzlich von oben"

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WOMAN-Leserin Christine war während der Geburt ihrer Tochter über 6 Minuten klinisch tot und erzählt uns von einem Nahtoderlebnis. Wir haben dazu einen Experten befragt.

Es war wohl eines der einschneidendsten Erlebnisse ihres Lebens. Eines, das WOMAN-Leserin Christine (37) nie wieder vergessen wird und ihr gleichzeitig so viel Kraft gibt, wie es ihr geraubt hatte: Während der Geburt ihrer zweiten Tochter war die damals 24-Jährige über 6 Minuten klinisch tot. Der Grund: Die werdende Mutter erlitt einen Gebärmutterhalsriss. Ihre Tochter hatte eine Fehlbildung am Bauch und kam fast 6 Wochen zu früh zur Welt. Mutter und Tochter rangten um ihr Leben. Während der OP hatte Christine ein Nahtoderlebnis, sah ihren Körper regungslos daliegen und hörte die Stimme ihrer verstorbenen Mutter. Mit uns teilt sie diese Erfahrung, die ihr bis heute Trost gibt und ihr die Angst vor dem Sterben nimmt. Heute geht es ihrer 12-Jährigen Tochter gut. „Sie hat sich ihren Platz im Leben erkämpft“, so Christine. Und auch sie selbst konnte sich wieder vollständig erholen.

Nahtoderlebnisse: Ein Erklärungsversuch

Nahtoderlebnisse werden in der Wissenschaft keineswegs ausgeblendet. Forschende befassten sich mit den Elementen, die eine Nahtoderfahrung ausmachen und konnten in Studien eine Reihe an Gefühlen identifizieren, die typisch für Nahtoderfahrungen sind. Gefühle der Geborgenheit und der vollkommenen Freude, Begegnungen mit verstorbenen Angehörigen und außerkörperliche Erfahrungen werden immer wieder beschrieben.

„Es gibt noch kein akzeptiertes wissenschaftliches Modell, das genau beschreibt, was im Gehirn der Menschen vor sich geht, die solche Erlebnisse haben“, so Prim. Prof. Dr. Wilfried Lang, Chefarzt der Neurologie im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien. Das Thema werde aber dennoch wissenschaftlich aufgearbeitet: „Es handelt sich hier um eine Reihe an komplexen, sehr lebhaften und multisensorischen Erfahrungen, die sehr intensiv erlebt werden. Die Inhalte dieser Erlebnisse sind zudem emotional meist sehr positiv besetzt“, erklärt Dr. Lang.

Schutzmechanismen verhindern Schmerzen während des Sterbevorgangs

Hirnforschende würden sagen, es handelt sich um einen Zustand, der im Gehirn generiert wird, der mit der Veränderung der Chemie im Gehirn entsteht, so Dr. Lang. Und auch einen Vergleich lässt die Nahtoderfahrung zu: So erleben BergsteigerInnen bei einer sogenannten Hypoxie (Sauerstoffmangel) einen Zustand der Freude, sie spüren keine Kälte mehr, keine Schmerzen. „Wir vermuten, dass Menschen, die sterben, in einen ähnlichen Zustand kommen. Für Angehörige ist es natürlich schmerzlich, der Person zuzusehen, die keine Luft mehr bekommt. Wir können aber davon ausgehen, dass sich die Person aber in einem anderen, freudvolleren Zustand befindet“, so Dr. Lang.

Die Berichte von NahtodpatientInnen und auch die Erfahrungen der BergsteigerInnen lassen also annehmen, dass das Sterben selbst keine schmerzbesetzte Erfahrung ist. „Diese Vertrautheitsgefühle und Erinnerungen sind neurologisch erklärbar. Wir verstehen, dass gläubige Menschen, eine spirituelle Erfahrung erleben. Man muss akzeptieren, dass es in der Wissenschaft keine Erklärungen für gewisse Phänomene gibt. Was wir wissen ist, dass der Sterbevorgang Schutzmechanismen aktiviert, die die Menschen nicht leiden lassen.“

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 © © Privat

WOMAN-Leserin Christine berichtet über ihre Nahtoderfahrung im Interview:

WOMAN: Wie würdest du das Nahtoderlebnis beschreiben?
Christine: In dem Moment, als dieses Nahtoderlebnis eingetreten ist, kann ich nicht mehr von einem Ich sprechen. Mein Ich hat sich nur noch wie eine frei fliegende Energie angefühlt. Vielleicht können wir das als Seele betrachten, ich weiß es nicht. Ich habe meinen toten Körper aus der Vogelperspektive am OP-Tisch liegen gesehen. Ich habe es registriert, aber es war mir vollkommen egal. Ich habe zwar gewusst, dass das da unten ’ich’ bin, aber auch, dass ich diese Hülle bedenkenlos liegen lassen kann. Ich weiß noch, dass der Chefarzt, der mich notoperiert hat, am Hinterkopf sehr schütteres Haar hatte. Das hätte ich liegend nie sehen können. Später sprach ich ihn darauf an.

Wie ging es weiter?
Christine: Das Team reanimierte mich weiter. Der Tod ist insgesamt zweimal eingetreten. Einmal für siebeneinhalb Minuten und einmal für viereinhalb Minuten, wie ich im Nachhinein erfahren habe. Es hat mich einfach weggezogen und es war plötzlich alles dunkel. Den klassischen Tunnel, den viele beschreiben, habe ich nicht gesehen. Dann hörte ich die Stimme meiner Mama. Als ich 18 war, ist sie an Krebs gestorben. Zu diesem Zeitpunkt war sie also bereits 6 Jahre tot. „Was machst du denn da?“ fragte ihre Stimme. Und ich antwortete ihr: „Ich möchte zu dir“. „Das kannst du vergessen, du kommst noch nicht mit, du bist noch nicht so weit!“ – so ging diese Konversation zwischen mir und ihr hin und her. Ich wollte unbedingt mitgehen, aber sie ließ es nicht zu.

Warum wolltest du mit?
Christine: Es war so ein schönes, glückliches Gefühl und ein ganz spezieller Geruch, den man nicht beschreiben kann. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt: Wenn ich mitgehen darf, wird’s einfach nur wunderschön. Es war zwar dunkel, aber ich fühlte mich unheimlich beschützt. Ich weiß noch, ich wollte um keinen Preis zurück. Es war für mich absolut unwichtig, dass ich zwei Kinder und einen Mann hatte, die auf mich warten. Wie gesagt, ich kann nicht mehr von einem ’Ich’ sprechen oder von ’mir’. Deshalb weiß ich jetzt, wenn wir einmal sterben, dass wir ohne Bedenken zurückschauen können. Es gibt keine Wehmut. Man kann das alte Leben zurücklassen, ganz ohne Trauer.

Wie würdest du den Geruch beschreiben?
Christine: Es war ein warmer, süßlicher, beschützender Geruch. Ich kann nicht sagen, an was er mich erinnert. Ich hatte das Gefühl, ich will hier nie wieder weg.

Wie bist du „zurückgekehrt“?
Christine: Ich konnte wie gesagt die Stimme meiner Mutter hören, die immer wieder sagte, dass ich zurück muss. Mich zog es irgendwann plötzlich wieder weg. Dann muss der Herzschlag wieder da gewesen sein. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Nach der OP bin ich noch eine Zeitlang im Tiefschlaf gelegen.

Konntest du auch dein Leben vorbeiziehen sehen?
Christine: Nein, das hatte ich nicht. Ich hatte aber in der Zeit danach noch ein paar seltsame Träume: Ich träumte z.B. von meiner Volksschulzeit und auch andere Träume, wo vieles aus meinem Leben an mir wie ein Film vorbeigezogen ist.

Was konntest du mitnehmen?
Christine: Im April 2018 ist eine meiner besten Freundinnen an Krebs gestorben. Was mich bis heute tröstet: Ich habe gewusst, wenn meine Freundin nur die Hälfte von dem erlebt hat, was ich damals erleben durfte, dann geht es ihr jetzt besser. Wir alle brauchen keine Angst vor dem Tod zu haben. Ich sehe heute auch den Tod meiner Mutter anders. Und auch mein Vater konnte durch mein Nahtoderlebnis anders mit seiner Trauer umgehen. Für mich war es ein Geschenk, die Stimme meiner Mutter zu hören und zu wissen, dass sie mich mitnimmt und abholen wird, wenn es so weit ist. Wenn man die Schmerzen und Strapazen, die ich erleben musste, wegrechnet, würde ich sagen, dass ich für dieses Erlebnis sehr dankbar bin.

Hast du viel darüber recherchiert?
Christine: Ja. Ich habe viel im Internet über Nahtoderlebnisse gelesen und Videos von Menschen gesehen, die darüber berichten. Manches hat sich gedeckt, manches war ähnlich und manche Dinge konnte ich wiederum überhaupt nicht teilen.

Mit wem hast du als erstes darüber gesprochen?
Christine: Am Anfang war das Nahtoderlebnis für mich nicht präsent. Meine erste Frage nach dem Aufwachen war: „Wo ist mein Kind? Wie geht es meinem Kind?“ Die Zeit darauf war unglaublich turbulent und anstrengend. Ich musste mich von dieser schwierigen Not-OP erholen und mich gleichzeitig um meine Kinder kümmern. Meine zweite Tochter war lange Zeit auf der Baby-Intensivstation und leidet noch heute unter den Folgen der Frühgeburt und der angeborenen Fehlbildung. Das erste Mal, dass ich registriert habe, was da überhaupt passiert ist, kam mir erst nach vier oder fünf Monaten. Bis dahin habe ich das Nahtoderlebnis komplett verdrängt – bis es mich eingeholt hat. Als ich dann wieder etwas Zeit zum Durchatmen hatte, ist es mir blitzartig wieder eingefallen, was passiert ist. Zuallererst habe ich es meinem Mann erzählt. Er war für mich die allergrößte Stütze, die es gibt.

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