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Die Zukunft des Feminismus: Über Visionen und Ziele der nächsten Generation

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Feminismus

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Was wir wollen, ist klar: Absolute Gleichberechtigung. Doch wie sieht unsere Zukunft tatsächlich aus? Was muss sich noch ändern und was können wir ändern? Vier Expertinnen über Möglichkeiten, Herausforderungen und das transformative Potenzial unserer Gesellschaft.

"Alle sollen die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben, ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu führen", sagt Influencerin "trinksaufmich". "Im Mittelpunkt steht die Würde aller Menschen und die ist unantastbar", so Zukunftsforscherin Christiane Varga. "Gleiche Chancen für alle, hier und auf der ganzen Welt", meint Stand-up-Comedienne und Autorin Julia Brandner. "Unabhängig davon, in welchem Körper ich geboren bin und in welcher Lebenssituation ich stehe, stehen mir alle Rechte und Möglichkeiten zu, die auch andere haben", sagt Kulturvermittlerin Petra Unger. Und sie ergänzt: "Feminismus ist eine Utopie." Eine, von der wir allerdings nicht abkommen dürfen.

Wir müssen groß denken und groß handeln – im Sinne einer fairen Zukunft. "Es geht um eine bessere und gerechtere Welt und nur wenn wir Frauen dazu bereit sind, uns politisch zu positionieren und unsere Rechte einzufordern, können wir alte, überholte Strukturen hinter uns lassen. Wir müssen aufstehen und uns engagieren, denn wir werden nicht darum herumkommen, unsere Anliegen selbst zu vertreten", so Unger.

Ein Rechtsruck hat noch nie was Gutes für Frauenrechte bewirkt.

Julia BrandnerStand-up-Comedienne und Autorin

Die aktuelle Lage sieht die Comedienne Brandner kritisch: "Wir entwickeln uns gerade zurück. Ich sehe gerade so viel Hass im Netz gegen Frauen wie noch nie. Ich schaue in Länder wie den Iran, wo Menschen Frauen aufgrund ihrer bloßen Existenz foltern und töten, und bin einfach nur fassungslos und hilflos."

Erst unlängst wurde wieder eine Frauenrechtlerin im Iran zu drei Jahren Gefängnis verurteilt – aufgrund "feindlicher Propaganda gegen den Staat" und "Bildung einer Gruppe zur Störung der öffentlichen Sicherheit". Ghazaleh Zarea setzt sich für Opfer häuslicher Gewalt ein … Dann zwischendurch eine Meldung, die auf die Schnelle nach einem "Geht doch!" klingt, nach Hoffnung, vielleicht sogar einem winzigen Schritt in die richtige Richtung, in ihrem Kern aber nur einmal mehr beweist, wo wir aktuell stehen: Nach mehr als 40 Jahren durften Frauen auf Druck des Weltverbandes FIFA im Dezember 2023 in Teheran zum Stadtderby ins Fußballstadion.

In Polen ist die Abtreibung nahezu komplett verboten. Vor vier Jahren beschloss man dort eines der strengsten Abtreibungsgesetze Europas, das schon davor zu einem der striktesten weltweit galt. Nur im Fall von Vergewaltigung oder Inzest oder wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, sind Schwangerschaftsabbrüche erlaubt. Auch ist die "Pille danach" nur mit Rezept zu bekommen. Die neue polnische Regierung mit Ministerpräsident Donald Tusk will das Abtreibungsrecht jetzt liberalisieren. Ein Gesetzesentwurf sieht legale und sichere Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche vor. Auch der Zugang zur "Pille danach" soll erleichtert werden. Als ein Vorankommen lässt sich das wohl nicht verbuchen. Es ist vielmehr ein Hinterherhecheln, ein Begradigen von Missständen, die es so gar nicht geben sollte.

Viel zu viele Femizide und eine Frauenministerin, die sie nicht als Feministin bezeichnet …

Stand-up-Comedienne Brandner hofft, "dass die Vernunft siegen wird und die Menschen, die bisher 'unpolitisch' waren, endlich politisch werden. Aktuell können wir es uns nicht leisten, unpolitisch zu sein. Wer sich in Anbetracht des drohenden Rechtsrucks nicht für Politik interessiert, schaut tatenlos zu, wie sich Geschichte wiederholt. Und ein Rechtsruck hat noch nie was Gutes für Frauenrechte bewirkt.“

Auch die Lage hierzulande stimmt die Autorin sorgenvoll. Seit Jahren gehört Österreich zu den traurigen Spitzenreitern beim Thema Femizide. 2023 waren es in Österreich 27 Femizide, 51 Mordversuche und Fälle schwerer Gewalt. Im Schnitt geschieht häufiger als alle zwei Wochen ein Femizid. 2024, Stand Ende Jänner, wurden bereits sechs Fälle schwerer Gewalt an Frauen verzeichnet. Eine traurige Bilanz der Regierung, was Gewaltschutz betrifft.

"Gewalt gegen Frauen wirkt normalisiert und wir haben eine Frauenministerin, die nicht nur nichts dagegen unternimmt, sondern sich auch nicht als Feministin bezeichnet, weil sie mit diesem Label nicht spalten möchte. Des Weiteren werden zwar immer wieder Kampagnen gegen Gewalt an Frauen veröffentlicht, die sich dann aber nie an die Täter richten, sondern immer nur sagen, wie sich Frauen anders und besser verhalten sollen, um sich gut zu schützen", so Influencerin "trinksaufmich".

Zu wenig Bewusstsein für Feminismus und falsche Strukturen

Die Adressaten sind also häufig die falschen. So auch, wenn es um die Frage geht, wo wir mit dem Feminismus aktuell stehen. Unger: "Man sollte nicht uns Feministinnen, sondern die – durchaus meist männliche – Elite fragen, warum autoritäre, patriarchale Formen für sie so attraktiv sind. Warum wissen Außenpolitiker nichts über die Inhalte feministischer Außenpolitik? Warum darf ich in einer Führungsposition sagen, Feminismus sei nicht relevant? Warum stellt der Staat Frauenhäusern kein fixes Budget zur Verfügung? Wir müssen die Verantwortlichen für die Rückschritte der letzten Jahre und die fehlenden Fortschritte in Fragen der Gleichberechtigung und Emanzipation der Geschlechter klar benennen, anstatt den Feministinnen die Schuld in die Schuhe zu schieben."

Ein weiterer Bereich, indem eine absolute Schieflage herrscht, ist die Bezahlung am Arbeitsplatz. Stichwort: Gender Pay Gap. 2023 waren es in Österreich 16,2 Prozent, die Frauen im Durchschnitt weniger verdienen als Männer. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Entgeltdifferenz um einen Tag verbessert. Wenn es in dem Tempo weitergeht, dauert es noch eine halbe Ewigkeit, bis wir endlich fair bezahlt werden.

Ein Lichtblick ist die EU-Richtlinie, die mit Lohntransparenz gegen Lohndiskriminierung am Arbeitsplatz wirkt. "Wenn niemand weiß, von welchen Löhnen wir konkret sprechen, wie soll sich da auch etwas ändern?", so die Expertin. Überhaupt, findet Unger, muss sich unser gesamtes Wirtschaftssystem verändern: "Warum sind Pflegeberufe so unterbewertet? Warum verdienen Kindergartenpädagog:innen so wenig im Vergleich zu Fond-Managern, die mit Geld in Millionenhöhe zocken können und mitunter viel Geld in den Sand setzen? Weshalb werden bestimmte Tätigkeiten diskriminiert, während andere privilegiert werden? Ausbeutung und die Benachteiligung an den Rand gedrängter Gruppen ist ein dem Kapitalismus immanentes Prinzip."

Gesellschaftlicher Wandel geht uns alle etwas an

Es sind zum einen die großen Strukturen, die verändert werden müssen für mehr und für echte Gleichberechtigung. Zum anderen sind es die Handlungen von jedem und jeder einzelnen, die in Summe viel zu bewegen vermögen. Denn auch im Kleinen setzt gesellschaftlicher Wandel an. "Wir alle sollten uns immer wieder auch mal an der eigenen Nase nehmen und unsere eigenen Vorurteile und Werte hinterfragen. Wir sollten uns selbst ertappt fühlen, wenn wir uns beim Anblick einer erfolgreichen Frau 'Die hat sich sicher hochgeschlafen' denken. Oder wenn wir 'Ich kann mit Männern einfach besser, Frauen sind immer so zickig' sagen. Wir sollten aufhören, uns gegenseitig runterzumachen und andere Frauen als Konkurrentinnen zu sehen und stattdessen eher schauen, wie wir uns gegenseitig Türen aufhalten können, weil wir uns eigentlich gegenseitig stärker machen können", ist Brandner überzeugt. Und: Wir dürfen, sollen und müssen mehr für uns selbst einstehen. "Indem wir das tun, empowern wir uns selbst und gleichzeitig andere Frauen."

➠ Mehr zum Thema Female Empowerment: Frauen ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen

Wir sollten aufhören, uns gegenseitig runterzumachen und andere Frauen als Konkurrentinnen zu sehen und stattdessen eher schauen, wie wir uns gegenseitig Türen aufhalten können, weil wir uns eigentlich gegenseitig stärker machen können.

Julia BrandnerStand-up-Comedienne und Autorin

Zukunftsforscherin Varga plädiert für das Vier-Augen-Prinzip in Firmen, Organisationen und Unternehmen: "Einen Big Boss zu haben, der über allem steht, ist ein ziemlich überholtes Konzept", so die Expertin, "Es ist weitaus klüger, zwei Personen an der Spitze zu haben, weil man Defizite viel besser ausgleichen und Talente wiederum besser einsetzen kann. Außerdem fühlt sich jede:r im positiven Sinne immer etwas beobachtet, muss sich rechtfertigen und reflektiert sich und alle Handlungen dadurch strenger."

Außerdem hält Varga dazu an, den Fokus auf Bildung zu setzen. "Es muss in den Kindergärten und Schulen anfangen, damit Mädchen von klein auf verinnerlichen, dass sie nicht weniger wert sind oder weniger können als Buben." Einen Ansatz, den sie besonders gutheißt: "Der Sohn eines Freundes geht in einen Kiga, in dem sie ein Buddy-System etabliert. Da wird jeweils ein älteres Kind einem jüngeren zugeteilt. Das macht für alle Sinn. Die jungen lernen von den älteren und die älteren lernen, Verantwortung zu übernehmen. Es entsteht ein Miteinander, Konkurrenzdenken und Diskriminierung haben keinen Platz."

Für die Zukunft des Feminismus: Eltern als Vorbilder und feministische Bildung an Schulen

Unger ergänzt: "Gynäkolog:innen sollten eine verpflichtende Ausbildung im Bereich Verhütung und Schwangerschaftsabbruch absolvieren müssen. Feministische Inhalt sollten verpflichtend in Aus- und Weiterbildung von Kindergartenpädagog:innen und Lehrer:innen verankert werden. Es braucht ein Ende der weiblichen Geschichtslosigkeit, die dazu führt, dass Mädchen und Frauen keine Vorbilder haben und verstärkt Vermittlung von politischem Bewusstsein  – in allen Berufen und Hierarchie-Ebenen."

Ein klares Ja für mehr feministische Bildung an Schulen und einer Reform des Lehrplans kommt auch von "trinksaufmich": "Schüler:innen müssen mehr über Feminismus erfahren, außer, dass Frauen mal ihre BHs verbrannt haben und für das Wahlrecht gekämpft haben. Mehr habe ich zum Beispiel nicht gelernt … Wir müssen jungen Mädchen mehr Selbstbewusstsein lernen und ihnen zeigen, dass sie auch gut in Physik und Mathe sein können. Wir müssen sie motivieren und gleichzeitig Jungs lernen, dass sie ihre Gefühle zeigen dürfen, dass sie nicht immer die starken sein müssen. All das sind nur kleine Tropfen in diesem riesigen patriarchalen Becken, aber können nachhaltig schon zu einer Veränderung der Gesellschaft beitragen."

Dann sind da auch noch die Eltern, die als gute Vorbilder vorangehen sollten, findet Brandner: "Sie sollen ihren Kindern selbstverständlich zeigen, dass ein Vater genauso gut Care-Arbeit leisten kann wie eine Mutter und dass eine Mutter genauso gut ein Regal aufbauen kann wie ein Vater. Kinder sind teilweise intelligenter als Erwachsene und haben kaum internalisierte Vorurteile, sie bekommen sie erst anerzogen."

Unger beobachtet bei den jungen Menschen jedenfalls eine sehr positive Entwicklung: "Wir brauchen sie nicht zu motivieren, sie sind da und höchst empört – zu Recht." Und dieses Mindset wünscht sie sich auch vom Rest der Gesellschaft: "Dass die Anfälligkeit, autoritären und rechtsextremen Ideen zu folgen, abnimmt. Wie auch die Verherrlichung patriarchaler Verhaltensweisen und – strukturen endlich noch unattraktiver werden sollten. Ich wünsche mir eine gesamtgesellschaftliche Bereitschaft zur Weiterentwicklung der Demokratie. Denn, ganz salopp gesagt: Ich will eine gerechte Gesellschaft – nicht mehr und nicht weniger. Und ich möchte den Gedanken bis zuletzt nicht aufgeben: Eine bessere Welt ist möglich."

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