
Noch einmal von vorn anfangen oder endlich etwas wagen, von dem man schon lange träumt – Psychologin Stefanie Stahl erklärt, warum es dafür nicht erst eine Sinnkrise braucht.
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Gute Vorsätze sind schnell formuliert. Und oftmals genauso schnell wieder vergessen. Doch wie gelingt es uns, im Leben tatsächlich eine neue Richtung einzuschlagen, wenn sich alte Pfade nicht mehr gut anfühlen? „Von Viktor Frankl gibt es diesen wunderbaren Spruch: ‚Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie‘“, gibt Stefanie Stahl zu bedenken. Die bekannteste Psychologin im deutschsprachigen Raum ist überzeugt: „Starke Werte geben sehr viel Halt und stärken auch das Selbstwertgefühl auf gesunde Art und Weise.“ Nur, wie findet man in Zeiten voller Unsicherheit heraus, was einen tatsächlich mit Sinn erfüllt? Wie man sein persönliches Warum findet und welche Frage man sich stellen sollte, um ins Handeln zu kommen – die renommierte Expertin im großen WOMAN-Gespräch.
Von einem Neuanfang zu träumen, ist gerade Anfang des Jahres verführerisch. Woran erkennt man, dass man tatsächlich etwas in seinem Leben ändern sollte?
Dafür gibt es viele Anzeichen. Fühlt man sich über längere Zeit hinweg leer, unglücklich oder ist unzufrieden mit seinem Leben, sollte man wirklich darüber nachdenken, etwas zu ändern. Oder auch bei dem Gefühl, dass man eigentlich nur noch funktioniert und wenig Lebensfreude verspürt. Wenn die Diskrepanz zwischen dem, was ich möchte, und dem, was ich tue, immer größer wird, sollte man aktiv werden.
Gibt es bestimmte Lebensphasen, die dafür besonders prädestiniert sind?
Häufig sind es Übergangsphasen. Ein Klassiker ist, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Aber es kann natürlich auch mittendrin passieren, wenn ich beispielsweise schon lange in meinem Job feststecke und merke, dass das eigentlich überhaupt nicht mehr mein Ding ist und ich mich täglich nur noch dahinschleppe. Häufig sind es auch gesundheitliche Einschnitte oder Phasen, in denen einem seine begrenzte Lebenszeit bewusst wird. Viele Frauen starten in ihren 50ern noch einmal einen Neuanfang.
Muss man immer erst unzufrieden sein, um etwas nachhaltig zu verändern?
Nein, das kann auch aus purer Leidenschaft geschehen. Dass man einfach tierisch Bock hat auf ein bestimmtes Projekt oder eine bestimmte Sache, für die es aber etwas Mut braucht, weil es vielleicht ein Sprung ins Ungewisse ist.
Wovon hängt es ab, wie risikobereit jemand ist?
Sehr häufig von dem inneren Kind. Wenn ich grundsätzlich das Gefühl habe, ich bin okay und dem Leben gewachsen, dann habe ich natürlich nicht so viel Versagensangst und gleichzeitig auch eine höhere Zuversicht, wieder auf die Beine zu kommen, wenn ich einmal scheitere. Menschen, die eine Grundverunsicherung in sich spüren, haben viel mehr Angst vor dem Scheitern. Weil es dann ja wieder die scheinbare Bestätigung ihrer eigenen Unzulänglichkeit ist. Das heißt, sie sind viel verwundbarer an der Stelle. Und trauen sich nicht zu, Krisen zu bewältigen.
Also geht es vor allem um das Selbstwertgefühl ...
Ja, denn wenn ich etwas wage, muss ich ja immer auch das Scheitern einkalkulieren. Habe ich aber das Gefühl, ich kann eine Enttäuschung ganz schlecht verkraften, dann bin ich natürlich auch weniger mutig.
Wenn ich das Gefühl habe, ich bin okay und dem Leben gewachsen, habe ich natürlich nicht so viel Versagensangst.
Unzufriedenheit fußt häufig darin, dass jemand keinen Sinn mehr in einer bestimmten Tätigkeit oder Lebensweise sieht. Wie kann man das Bedürfnis nach mehr Sinnhaftigkeit für sich nutzen?
Sinn ist immer eine Quelle der Erfüllung, wir Menschen brauchen ihn unbedingt. Und er hat sehr viel mit Werten zu tun. Das heißt, indem ich mich frage, was mir wirklich wichtig ist und wofür ich in diesem Leben eigentlich eintreten möchte, komme ich dem näher. Dabei geht es nicht nur darum, was mir selbst Freude bereitet, sondern vor allem auch darum, was ich für andere tun kann.
Wie finde ich heraus, welche Tätigkeiten für mich persönlich sinnstiftend sind, wo beginne ich am besten zu suchen?
Man sollte zunächst analysieren, warum sich das, was ich aktuell mache, sinnlos anfühlt. Was fehlt mir dabei? Erst einmal eine Diagnose zu stellen oder auch zu sehen, was eben nicht sinnstiftend ist, kann hilfreich sein.
Inwiefern spielt das Umfeld dabei eine Rolle?
Wir Menschen sind ja soziale Wesen, wir leben alle in Beziehungen. Deshalb ist jedes Problem, das wir haben, immer auch ein Beziehungsproblem.
Wie kann man seine Werte im Alltag erkennen und leben?
Es gibt viele Menschen, die konfliktscheu sind. Wenn ich erkenne, dass ich in einer Situation reflexartig einem Konflikt aus dem Weg gehe, kann ich mich zum Beispiel fragen: Ist das gerade fair dem oder der anderen gegenüber? Denn Fairness ist für viele ein hoher Wert, den sie leben möchten. Mit dieser Einsicht kann ich meine Angst überwinden und dann doch das dringend notwendige Gespräch mit der betreffenden Person führen.


Mit ihrem Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ (Kailash Verlag) wurde Stefanie Stahl international bekannt. In den letzten zehn Jahren wurde der Bestseller in 36 Ländern veröffentlicht.
© Susanne WysockiUnd wenn ich etwas nicht mehr als sinnvoll erachte, sollte ich es dann lieber aufgeben?
Es kommt darauf an. Man kann schon auch wieder Sinn in etwas reinbringen. Ich erinnere mich dabei an eine Klientin, sie war 56 Jahre alt und als Sachbearbeiterin beim Finanzamt tätig. Sie hatte eine große Sinnkrise, aber wollte auch nicht einfach kündigen, weil es realistischerweise schwierig gewesen wäre, einen anderen Job zu finden und sie dadurch auch Abstriche bei ihrer Rente hätte machen müssen. Also haben wir uns gemeinsam überlegt, wie sie innerhalb ihrer Tätigkeit wieder mehr Sinn finden kann.
Was haben Sie dabei herausgefunden?
Es gab mehrere Aspekte. Zum einen wollte sie nicht mehr den armen Schluckern das Geld aus der Tasche ziehen, während die großen Fische einfach davonkommen. Also hat sie eine Fortbildung gemacht, um diese Mandanten besser zu unterstützen. Dann hat sie sich vorgenommen, in Gesprächen mit ihren Vorgesetzten öfter mal den Mund aufzumachen und außerdem die Beziehung zu ihren Kolleg:innen besser zu gestalten, sich wirklich für sie zu interessieren.
Das klingt nach viel Arbeit. Hat es sich gelohnt?
Ja, anhand dieser Punkte hat sie ihrem Job, der ihr eigentlich sinnlos erschien, wieder Sinn verliehen und konnte dann auch gut weitermachen.
Viele Menschen tun ganz viel dafür, gewisse Gefühle gar nicht erst aufkommen zu lassen. Aber dann kann ich sie auch nie bearbeiten.
Wie kann es in der schnellen Zeit, in der wir leben und ständig abgelenkt werden, gelingen, in sich hineinzuhören?
Indem man sich Pausen nimmt und richtig zur Ruhe kommt. Ich gehe zum Beispiel gerne spazieren. Denn es kommt darauf an, den Ge- danken mal Raum zu geben und sich nicht notorisch von sich selbst abzulenken. Viele Menschen tun ganz viel dafür, gewisse Gefühle gar nicht erst aufkommen zu lassen. Aber dann kann ich sie auch nie bearbeiten.
Ein Neubeginn findet also vor allem im Inneren statt und muss gar nicht immer mit einer großen Veränderung im Außen zusammenhängen.
Nicht unbedingt. Es kann auch einfach sein, dass man seine Einstellung grundlegend verändert. Ein Neubeginn kann sich aber auch durch Tätigkeiten ergeben. Wenn ich mich kreativ verwirkliche, zum Beispiel. Oder meine Beziehungen pflege. Aber auch wenn Sie sich mit meinem Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ beschäftigen. Viele machen dabei eine innere Reise zu sich selbst.
Wenn man sich zu Beginn des Jahres nur eine einzige Frage stellen sollte – welche wäre es?
Es muss nicht unbedingt zu Jahresbeginn sein, aber: Als Erstes stellen Sie sich vor, Sie würden am Ende Ihres Lebens stehen. Dann stellen Sie sich die Frage: Wie fühle ich mich, wenn ich jetzt immer so weitermache wie bisher?