
Wie verteidigt man seine Haltung, wenn alle zuschauen? Madeleine Alizadeh sprach beim WOMAN ELEVATE Circle über den Druck, Vorbild zu sein – und die Kunst, trotzdem bei sich zu bleiben.
"Sobald man etwas in die Öffentlichkeit gestellt hat, gehört es der Öffentlichkeit“, sagt Madeleine Alizadeh Ende März beim WOMAN ELEVATE Circle über ihren Job in den sozialen Medien. Mit ihrem Instagram-Kanal Daria Daria ist sie eine der einflussreichsten Stimmen für Nachhaltigkeit, Feminismus und soziale Gerechtigkeit im deutschsprachigen Raum. Was vor über zehn Jahren als Mode-Blog begann, wurde zu einer gesellschaftspolitischen Bewegung – heute ist Madeleine Alizadeh Unternehmerin, Autorin und Aktivistin. Unter dem Namen dariadéh hat sie vor acht Jahren ihr eigenes nachhaltiges Label gegründet – mit einem selbstbewussten Ziel: eine ernst zu nehmende Konkurrenz für die großen Fast-Fashion-Konzerne zu werden. Doch Social Media bringt nicht nur Reichweite, sondern auch Herausforderungen mit sich. Und über die haben wir mit ihr genauso gesprochen wie über die Verantwortung, die man trägt, wenn man so eine große Community hinter sich hat …
Wir haben uns vor zehn Jahren zum ersten Mal zum Interview getroffen – damals sind dir 22.256 Fans auf Instagram gefolgt. Heute umfasst deine Community über 359.000 Follower:innen. Wie hat sich dein Verhältnis zu den sozialen Medien über die Jahre verändert?
Mit Social Media verhält es sich wie mit vielen anderen Dingen im Leben: Es ist eine gewisse Ambivalenz da. Ich habe gelernt, dass die Power der Community irrsinnig stark ist. Also gerade wenn es um politische Angelegenheiten geht und um Solidarisierung, ist der Rückhalt groß. Auf der anderen Seite habe ich auch den Abgrund in all seinen Facetten erlebt.
Wo liegt für dich die Grenze zwischen Kritik, die einen Dialog ermöglicht, und Hate Speech?
Ich unterscheide in der Bereitschaft zum Diskurs. Das sieht man aktuell auch oft in politischen Debatten, wenn zum Beispiel sehr viele rechte Akteure eine Clownshow daraus machen. Man merkt, es gibt kein Interesse, einen Diskurs oder ein Streitgespräch zu führen, sondern es wird ins Lächerliche gezogen. Wenn eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung da ist, dann ist die Chance relativ gering, dass das in einen Shitstorm abdriftet. Um konkret zu sein: Hate Speech sind Beschimpfungen sowie Kommentare, die abseits der Sache und nicht inhaltlich sind.
Aus deinem Blog, der anfangs Fast Fashion beworben hat, wurde eine gesellschaftspolitische Plattform. Du hast dein Unternehmen dariadéh gegründet, ein Buch geschrieben und dich zwischenzeitlich auch politisch engagiert: Wann war für dich der Moment, in dem dir klar geworden ist, dass du diese große Community für etwas Sinnvolles nützen möchtest?
Was die wenigsten wissen: Als ich den Blog 2010 gestartet habe, war der erste Beitrag ein politischer Post. Ich bin in einem sehr politisierten Haushalt aufgewachsen, habe zu diesem Zeitpunkt Politikwissenschaft studiert und habe Polaroids, die ich auf einer Demo gemacht habe, online gestellt. Es ging damals um die Kürzung der Studiengebühren, glaub ich. Also das zieht sich schon viel länger durch mein Leben als jedes andere Thema, über das ich spreche. Erst danach hat es sich mehr in Richtung Lifestyle-Mode entwickelt. Da spüre ich auch wieder eine Ambivalenz: Ich dachte früher, dass es ein „Problem“ ist, dass ich so viele Interessen habe. Aber eigentlich ist es eine Stärke, und heute versuche ich, Entertainment und Education unter einen Hut zu bringen. 2013 kam der Bruch bei mir, und ich habe gesagt, ich bin jetzt nur noch nachhaltig, weil ich wieder etwas Sinnstiftendes gebraucht habe. Es passiert immer wieder, dass ich von meinen Idealvorstellungen ein bisschen abkomme, aber ich finde das mittlerweile auch völlig in Ordnung. Es ist total normal, dass man sich selber immer wieder korrigiert auf seinem Weg, sich manchmal sogar überkorrigiert und dann merkt: Da bin ich vielleicht zu sehr in die Selbstkontrolle geraten.
Wenn ich in der Öffentlichkeit stehe und diese Personen sich in Anonymität wiegen können, ist das schon bedrohlich.
Die Erwartungen sind hoch – gerade wenn man sich für Themen wie Nachhaltigkeit und Feminismus einsetzt, wird man besonders genau beäugt. Du selbst sagst, dass du unter dem Druck, diese perfekte Person zu sein, kollabiert bist. Was machst du mittlerweile anders?
Heute bin ich an einem gesünderen Punkt, was das angeht. Ich war die Erste im deutschsprachigen Raum, die so etwas wie Sinnfluencing gemacht hat. Ich konnte mich dazu mit niemandem austauschen. Jetzt gibt es viel mehr Wissen darüber, wie Aktivist:innen in der Öffentlichkeit behandelt werden und mit welchem Druck sie rechnen müssen. Ich wollte es nach meinem eigenen Ermessen und Gewissen gut und richtig machen, aber das hat zur völligen Selbstaufgabe geführt. Dazu kommen auch die Erwartungen von außen. Ich wurde in Medien als „Queen der Nachhaltigkeit“ betitelt, das geht natürlich mit einem gewissen Druck einher, dieses Soll auch erfüllen zu müssen.
Wie hast du wieder eine gute Balance gefunden?
Ich erlaube mir heute Dinge, die mir guttun und die mir Spaß machen. Manchmal heißt das auch, etwas zu tun, das vielleicht nicht zu 100 Prozent dem moralischen Kompass entspricht. Und ich glaube, ich kann vieles jetzt auch besser einordnen. Oft werden sehr viele systemische, strukturelle Probleme auf eine individuelle Ebene runtergebrochen. Ich weiß jetzt, dass mein Langstreckenflug nicht für das Gros der Emissionen verantwortlich ist. Und mir ist wichtig, generell immer wieder daran zu erinnern, dass systemische Probleme auch systemisch gelöst werden müssen und nicht individuell.
Wie wird sich die Rolle von Influencer:innen in den nächsten Jahren entwickeln?
Ich habe dafür keine Regeln, es ist eigentlich immer eine sehr intuitive Entscheidung. Und manchmal braucht es auch eine gewisse Zeit, bis ich über etwas rede. Bei manchen Themen habe ich tatsächlich ein oder zwei Jahre oder sogar länger gewartet. Dabei geht es mir nicht unbedingt darum, wie privat es ist, sondern ob ich zu dem Zeitpunkt damit umgehen kann, was auf mich reinbrechen wird. Auch wenn es ein Thema ist, wo 99 Prozent positive Rückmeldungen kommen, muss man das verarbeiten. Das ist manchmal überfordernd. Es gibt Personen, die diesen Job sehr strategisch angehen und auch besser gecoacht sind – das meine ich überhaupt nicht negativ, ich wünschte manchmal, dass es bei mir so wäre. Aber dadurch, dass ich das schon so lange mache, ist es so verwoben mit meiner Person und meinem Privatleben, dass ich das gar nicht trennen kann.
Du zeigst dich online sehr nahbar, indem du zum Beispiel auch über deine mentale Gesundheit sprichst. Wo liegt für dich die Grenze: Was teilst du (nicht)?
Ich glaube, es wird stark hin zu Communitys gehen: Power to the People. Es geht weg von exklusiven Influ- encer-Events und Personen, die eine bestimmte Marke anhimmeln. Man hat in den letzten Jahren gesehen, wie viel Kraft die Community hat: Sie kann eine Person in einer Sekunde canceln, gleichzeitig kann sie eine Brand über Nacht auf TikTok berühmt machen. Das wird in den Mittelpunkt rücken. Es wird sich unterteilen in Creator, die mit Celebritys gleichzusetzen sind, und jene, die der Community Services bieten. Ich sehe mich auch bis zu einem gewissen Grad als Dienstleisterin. Wenn ich etwa ein YouTube-Video zu Styling-Methoden oder Wardrobe-Decluttering mache, dann ist das quasi ein Dienst, den ich meinen Kund:innen zur Verfügung stelle. Man bemerkt das jetzt auch bei vielen Brands, die damit starten, ihre Teams in den Mittelpunkt zu rücken. Die Zeiten, in denen ein Guru angehimmelt wird, sind vorbei. Was gut ist, weil es dann auch ein bisschen den Druck verteilt.
Über die Autor:innen

Melanie Zingl
Melanie ist seit 2007 bei der Verlagsgruppe News (VGN) tätig. 2016 wurde sie Leitende Redakteurin und 2018 Stellvertretende Chefredakteurin. Seit 2024 ist Melanie Chefredakteurin bei WOMAN. Ihr erklärtes Ziel: "Make the World more WOMAN. Weil wir davon überzeugt sind, dass eine gleichberechtigte Welt eine bessere ist."