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Wie gelingt ein gutes Leben?

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Berg Fuji

Der Berg Fuji, das Wahrzeichen Japans, symbolisiert das, was bleibt, wenn alles andere im Wandel ist.

©picturedesk.com

Diese Frage begleitet Beth Kempton, britische Japanologin und Bestsellerautorin, seit ihrer Jugend. Mit Kokoro – dem Nippon-Konzept für das Herz im weitesten Sinne – lädt sie uns ein, den Blick nach innen zu richten und das Wesentliche zu spüren.

Fast drei Jahrzehnte ist es her, dass Beth Kempton ihre angestrebte Laufbahn mit Wirtschaftsstudium und Buchhaltung gegen ein Abenteuer eintauschte. Sie packte damals in ihrem Jugendzimmer ein paar dicke neue Wörterbücher in den Koffer und machte sich auf den Weg nach Japan. Offiziell wollte die Britin ein Jahr dort verbringen, um die Sprache zu lernen. „Doch da war noch etwas anderes“, erzählt die heute 48-Jährige. „Tief in mir spürte ich eine Art Sog.“

Anstatt sie von ihrem Vorhaben abbringen zu wollen, nahm ihre Mutter Beth mit in eine Buchhandlung, um einen Reiseführer zu besorgen. „Er schlug sich von selbst auf bei einem Foto einer Pagode im Schnee – und in mir begann es zu kribbeln. Später lag ich ausgestreckt auf meinem Bett und blätterte durch das Buch. Seite für Seite.“ Bis dahin war Kempton lediglich einmal auf einer Klassenfahrt in Frankreich gewesen. Japan existierte für sie nur in ihrer Vorstellung. „Als ich ein Foto zweier silhouettenhafter Figuren betrachtete, die still in einem schattigen Tempel saßen und in einen hellen Garten blickten, spürte ich etwas, das mich bis heute begleitet. Eine verborgene Wahrheit darüber, was es heißt, gut zu leben.“

Über die Jahre veränderte sich vieles. Heute ist Beth Unternehmerin, Bestsellerautorin und Japanologin: „Ich habe geheiratet, zwei Kinder bekommen, meinen Beruf gewechselt, bin oft umgezogen – doch eine der wenigen Konstanten ist diese tiefe Verbindung zu Japan.“ Diese Verbindung wird auch in ihrem neuen Buch deutlich, das den Titel „Kokoro“ trägt – ein Wort, für das es im Deutschen keine direkte Übersetzung gibt. Es bezeichnet im Japanischen jenen inneren Ort, an dem Verstand, Intuition und Gefühl zusammenkommen. Ein Kompass, der uns leise durch unsichere Zeiten des Wandels führt – wenn wir ihn denn beachten. „Es ist das intelligente Herz, das unsere angeborene Weisheit kommuniziert und im Hier und Jetzt unserer Umwelt antwortet, was in Form empfundener Impulse geschieht“, so Kempton. Sie spricht von tief verwurzeltem Wissen, unabhängig von allen gesellschaftlichen Erwartungen.

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Die Autorin und Japanologin Beth Kempton

Beth Kemptin ist britische Japanologin und Bestsellerautorin. Sie ist außerdem als Life Coach, Yogalehrerin und Podcasterin tätig. bethkempton.com

 © Holly Bobbins
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Cover des Buches "Kokoro"

"Kokoro: Japanische Weisheiten für ein gelunges Leben". Insel Verlag, um € 25,50.

 © Insel Verlag

Privater Umbruch

Anstoß für das Buch war eine persönliche Krise. In der viel zitierten Lebensmitte spürte Kempton zwischen Beruf, Care-Arbeit und Zukunftsfragen „ein Grollen unter der Oberfläche meiner perfekt durchgeplanten Tage“. Der plötzliche Tod ihrer engen Freundin Lisa mit nur 41 Jahren wurde zum schmerzhaften Wendepunkt. „Ihre Krebsdiagnose kam just zu dem Zeitpunkt, als ich statistisch die Lebensmitte überschritt. Mir wurde schlagartig bewusst, dass Lisas ‚Mitte‘ ihres Lebens womöglich mit 20 gewesen war – vielleicht tanzte sie da gerade fröhlich mit Freundinnen. Es hat mir vor Augen geführt, dass wir zwar von ,Lebensmitte‘ sprechen und dabei voraussetzen, 80 oder älter zu werden, doch wir haben keinerlei Garantie. Medienberichte über immer höhere Lebenserwartungen geben uns ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. In Wahrheit wissen wir es einfach nicht. Man kann diese Tatsache verdrängen oder sie sich bewusst machen und sich daran erinnern lassen, wie wertvoll jeder einzelne Tag ist.“

Wenig überraschend war Japan jener Ort, an den Kempton in dieser Phase zurückwollte – um herauszufinden, wie es in ihrem Leben weitergehen könnte.

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Kirschblüte

Kirschblüten (Sakura) gelten in der japanischen Kultur als Symbol für Vergänglichkeit.

 © picturedesk.com

Zwölf Prinzipien

Auf einer Pilgerreise rund um die drei heiligen Berge von Dewa – einem spirituellen Ort im Norden Japans – begegnete sie Menschen, die ihr halfen, neue Antworten auf Fragen zu den Themen Abschied, Vergänglichkeit und Neubeginn zu finden. Aus diesen Begegnungen, Ritualen destillierte sie schließlich zwölf Prinzipien, die als eine Art Wegweiser für ein bewusstes, gutes Leben dienen. Sie lauten etwa: Ein bewusst überprüftes Leben führen. Stille zulassen. Die Vergänglichkeit annehmen. Sich aus Erwartungen befreien. Dankbarkeit üben. Dahinter steht die Idee, dass ein erfülltes Leben nicht aus Status und Selbstoptimierung besteht, sondern aus der Fähigkeit, im Moment zu sein, loszulassen und sich auch von starren Bildern, die man über sich selbst hat, zu lösen.

Die Lebensmitte, so Kempton, sei der Zeitpunkt, an dem viele Menschen zum ersten Mal ein Gefühl für ihre eigene Sterblichkeit bekommen.

Sie verspüren einen Drang, ihr Leben neu zu priorisieren. Das kann Druck erzeugen, aber auch Erleichterung bringen – und eine Chance sein, sich neu auszurichten. „Ich finde, es ist eine großartige Gelegenheit, innezuhalten und Bilanz zu ziehen: Wo stehe ich? Wer werde ich? Was habe ich aus Gewohnheit oder Pflichtgefühl mitgeschleppt, das mir gar nicht mehr gehört? Wenn uns klar wird, dass unsere Zeit begrenzt ist, auch wenn noch vieles möglich bleibt, erkennen wir, dass wir nicht alles machen können. Wir beginnen dann, Entscheidungen zu treffen, was wir bleiben lassen und worauf wir uns wirklich konzentrieren wollen.“ Und sie ist überzeugt: „Je mehr wir loslassen, desto klarer wird, wer wir wirklich sind und was – und wer – uns wirklich wichtig ist.“

Sanfter Appell

Die Frage, welche Erkenntnis sie ihrem 20-jährigen Ich heute mit auf den Weg geben würde, ist dabei zugleich eine stille Einladung an ihre Leser:innen: „Wenn du versuchst, dich durchs Leben zu denken, wirst du dich auf das beschränken, was du schon weißt. Wenn du dich aber von deinem Kokoro leiten lässt, steht dir die ganze Welt offen – und du wirst immer wissen, was zu tun ist.“ Vielleicht ist genau jetzt der richtige Moment, sich daran zu erinnern.

Kommentar: Was hat Japan, das uns fehlt?

Geht es Ihnen auch so wie mir? In Gesprächen über Wunschdestinationen fällt in letzter Zeit immer öfter ein Land: Japan. Auf Instagram wurde mir im Frühling eine regelrechte Kirschblütenflut in den Feed gespült. Und Kollegin S. kehrte kürzlich mit köstlicher Matchaschokolade und leuchtenden Augen von ihrer zweiwöchigen Japanreise zurück. In ihren Erzählungen überschlug sie sich vor Begeisterung über die höflichen Menschen und die vorherrschende Sauberkeit. Vielleicht erlebt Japan gerade nur in meiner Blase einen Hype. Vielleicht begeben sich Menschen in Zeiten multipler Krisen aber wirklich auch im Urlaub auf die Suche: nach neuen Lebensphilosophien, Perspektiven. Davon gibt es in der japanischen Kultur viele, die es sich in den Alltag zu integrieren lohnt. Dabei sollte man nicht vergessen, dass es einem das strenge Arbeitsethos dort nicht leicht macht, im Einklang mit Kokoro zu leben. Viele der Lebensweisheiten spiegeln sich auch in der Popkultur wider: Der Kultfilm Lost in Translation (Bild unten) etwa ist ein beeindruckendes Beispiel für „mono no aware“ – die Erkenntnis, dass alles vergänglich ist und die Schönheit gerade darin liegt. Oder die Netflix-Serie Midnight Diner: Tokyo Stories, bei der in jeder Folge ein Gericht und ein Gast mit einer kleinen existenziellen Geschichte im Mittelpunkt stehen. Womöglich sind es diese stillen, feinen Erzählungen, die wir jetzt brauchen.

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