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Eine neue Liebes-Ära beginnt

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weiblicher Amor

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Die Welt verändert sich rasant, doch an den Mythos der großen Liebe klammern wir uns hartnäckig: Dabei würden wir so viel gewinnen, wenn wir uns davon frei machen. Und Beziehungen priorisieren, die nicht durch romantische Gefühle verblendet sind.

Wo fängt man an, wenn man über die Liebe schreibt? Vielleicht beim „schönsten Gefühl der Welt“? Bei den Schmetterlingen, die im Bauch nervös herumrumoren? Bei der „rosaroten Brille“, die unser Love Interest mit einem Weichzeichner so hübsch idealisiert? Während ein neurochemischer Cocktail unsere Gehirnwindungen in die Mangel nimmt und uns in einen fragwürdigen Ausnahmezustand versetzt? „Verliebtheit ist ein höchst disruptiver Zustand – neurochemisch eine Mischung aus Zwangsstörung und Suchterkrankung“, behauptet Beatrice Frasl in ihrem neuen Buch „Entromantisiert euch! Ein Weckruf“ (Haymon). Ja, harter Tobak. Auch wenn sich die Verliebtheit so gut anfühlt, weil sie einen Rausch beinhaltet, sei sie eher ein psychologischer Notfall. Ein Ausnahmezustand, von dem uns eingeredet wird, dass er auch noch verdammt romantisch sei – obwohl er uns eigentlich nur verblödet. Wie kann das sein?

„Der Grad der wahren Liebe, das haben alle gelernt, lässt sich am Ausmaß der Dysfunktionalität der Empfindungen der sogenannten Liebenden bemessen. Je mehr sie einem den Schlaf und den Appetit raubt, desto besser. Nur wenn sich das eigene Selbst völlig in der anderen Person auflöst, hat die sogenannte Liebe wahrhaftig zugeschlagen“, analysiert die Autorin. Die Kulturwissenschaftlerin plädiert für ein Umdenken, um das „Märchen von der großen Liebe“ neu zu interpretieren: „Die romantische Liebe ist eine patriarchale Indoktrinationskampagne, deren Narrativ sich seit Jahrhunderten durchsetzt.“ Frasl geht der Frage nach, warum es so ein starkes gesellschaftliches und kulturelles Narrativ gibt, welches Frauen – entgegen jeder Evidenz – erklärt, dass die romantische Liebe etwas Schönes und Gutes ist. Die Faktenlage sieht nämlich ganz anders aus. „Studien bestätigen, dass Frauen von romantischen, heterosexuellen Beziehungen mit Männern nicht profitieren – dass sie in ihnen ungesünder, unglücklicher und kürzer leben. Bei Männern ist es umgekehrt.“ Frasl fragt sich, warum die romantische Liebe zum Synonym für Liebe wurde, wo sie doch die am wenigsten beständige, am wenigsten tragfähige, austauschbarste Form der „Liebe“ ist, die wir kennen: „Es ist dringend notwendig, das zu ändern, denn es gibt auch andere Formen. Freundschaften zum Beispiel.“ Eben Verbindungen, die nicht durch romantische Gefühle verblendet sind und durch ihre An-und Abwesenheit destabilisiert werden. „Wir müssen die Hierarchie zwischen romantischen und platonischen Beziehungen aufbrechen. Letztere sind nicht weniger wichtiger als Erstere, ganz im Gegenteil“, betont Frasl, die für mehr Commitment und Ernsthaftigkeit in der (platonischen) Beziehungsarbeit ist. „Das heißt auch mehr Verantwortung füreinander übernehmen, jenseits der romantischen Beziehungen“, so Frasl.

Freiheit gewinnen

So ein „postromantisches Leben“ kann sehr vielfältig aussehen. Warum nicht mal die eine Freundin dafür feiern, dass sie ihr eigenes Business aus dem Nichts erschaffen hat? Die Freundin, die sich aus einer toxischen Beziehung befreien konnte. Oder die Freundin, die einen Marathon gelaufen ist. Sie sehen schon – es gibt immer wieder Gründe, um seine Liebsten hochleben zu lassen, fernab von Verlobungen, Hochzeiten oder Schwangerschaften. Das Gute an diesem Mindshift: Man stellt sein Leben damit auch auf ein viel stabileres Fundament. Denn Freundschaften sind in der Regel beständiger und halten länger als romantische Beziehungen. Auch die in Deutschland lebende französische Politologin Emilia Roig tritt dafür ein, die Hierarchie der menschlichen Beziehungen, die die heteronormative Ehe an die Spitze stellt, abzuschaffen. Roig möchte die romantische Liebe befreien. Nicht indem wir sie abschaffen, sondern indem wir uns von einer festgefahrenen Idee befreien: „Wir nehmen seit der Kindheit viele Botschaften, Bilder und Erzählungen über die romantische Liebe auf, die uns in einer engen, oft nicht realistischen Vorstellung gefangen halten.“ In ihrem neuen Buch „Liebe“ (Hanser) erklärt sie, dass die romantische Liebe nicht nur mit individuellen Gefühlen zu tun hat, sondern eher eine gesellschaftlich-politische Funktion erfüllt. „Liebe ist das Opium des Volkes. Die Sucht entsteht durch die wiederholte Suche und das zwanghafte Bedürfnis nach einem Glücksgefühl, das nie befriedigt wird. Das gesellschaftliche Versprechen der heterosexuellen Liebe und der Kernfamilie hält Frauen in einem suchtähnlichen Zustand“, kritisiert die Autorin.

Während Frauen an dieses Versprechen glauben und in die Beziehung investieren, merken sie nicht, wie die „Liebe“ als Instrument des Patriarchats ihre Unterdrückung zementiert. Das bestätigt auch Frasl in ihrem Essay – die Ideologie, die die Liebe umgibt, verwandle Frauen zu Gratisdienstleiterinnen im Privaten. Ganz einfach: Sie schultern in Österreich zwei Drittel der Care-Arbeit im Haushalt, der Kinderbetreuung, in der Pflege und in der sozialen Unterstützung von Kranken und alten Angehörigen – „aus Liebe“. „Es ist vor allem für Männer praktisch, wenn Frauen von klein auf beigebracht wird, dass ihre Liebe ein Geben und Leisten ist“, erklärt Frasl diesen Zusammenhang. Auch dass Frauen von klein auf eingeimpft werde, Partnerschaften um eine Person herum zu zentrieren, dass es eine „wahre Liebe“, einen Seelenverwandten oder „a significant other“ gibt, mache uns unfrei. Das bemerkt auch Jillian Turecki, Coach und Beziehungsexpertin aus New York. Sie stellt klar: „Es existiert niemand, um uns zu vervollständigen. Die Wahrheit ist, dass dieses Gefühl von Ganzheit und Lebendigkeit ein emotionaler Zustand ist, der tief aus uns selbst kommt.“ Für die amerikanische Bestsellerautorin mit 2,8 Millionen Fans auf Instagram ist die „tiefe, glückselige, reine Liebe, die wir empfinden, wenn wir uns verlieben, nichts anderes als eine Erinnerung an die Liebe und die Freude, zu der wir (grundsätzlich) selbst fähig sind“. Sie enthülle lediglich die Liebe und Leidenschaft, die bereits in uns steckt und darauf wartet, geweckt zu werden, meint Turecki. Und das geht mit oder ohne die Anwesenheit eines Gegenübers. In ihrem neuen Buch „It begins with you – 9 harte Wahrheiten über die Liebe, die dein Leben verändern werden“ (Fischer) veranschaulicht die Expertin, warum die Beziehung zu uns selbst so entscheidend ist: „Wir entscheiden uns für uns selbst, indem wir unser Leben so authentisch und integer wie möglich führen. Und zum Helden oder zur Heldin unserer eigenen Geschichte werden.“ Ja, wenn das so einfach wäre …

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Frauen leben gesünder und glücklicher, wenn sie platonische Beziehungen an die erste Stelle setzen.

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Einsam, zweisam

Leider hält sich die Idee, dass die romantische Liebe die Grundlage für eine Beziehung sein soll, schon verdammt lange in unseren Köpfen: Die Liebesehe wurde im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert dominant, vorher heiratete man eher aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen des Machterhalts, weiß Beatrice Frasl. „Liebesbeziehungen hatte man außerhalb der Ehe – in Freundschaften zum Beispiel, die mitunter eng, partnerschaftlich und intim waren.“ Die Industrialisierung brachte eine Ausbreitung kapitalistischer Produktions-und Ausbeutungsverhältnisse mit sich.

Die Frau wurde in die Sphäre des Privaten verbannt, um dem Mann den Rücken freizuhalten. „Weil das warenproduzierende System nicht durch so Dinge wie Fürsorge, Pflege oder Kinderbetreuung belästigt werden sollte“, erklärt Frasl die Geburtsstunde der romantischen Zweierbeziehung in der Kleinfamilie. Die Liebe im Patriarchat entfernt Frauen voneinander, vereinzelt sie und sabotiert enge Beziehungen und Solidarität unter ihnen, die subversives feministisches Potenzial hätten, so Frasl. Denn statistisch gesehen ist es so, dass pro romantischer Beziehung zwei enge Freundschaften verloren gehen.

Selbstbestimmt

Das hat sich verändert, denn Frauen leben heute finanziell unabhängiger und haben tiefe Beziehungen zu ihren Freundinnen. Diese Beziehungen befriedigen ihre emotionalen Bedürfnisse und sind oft intimer und enger als die Verbindung zu romantischen Partnern. Frasl: „Wenn Männer nicht mehr gebraucht werden, müssen sie gewollt werden. Sie müssen etwas Positives zum Leben einer Frau beitragen, um mit ihr in Beziehung stehen zu können. Und das passiert in aller Regel nicht.“ Was hart und desillusionierend klingt, bestätigen aktuelle Statistiken. Immer mehr Frauen sind lieber single und fokussieren sich auf ihre Freundschaften: „Wir sehen eine massive Bewegung von Frauen aus heteroromantischen Beziehungen und aus der Mutterrolle heraus. Studien aus den USA sagen, dass 2030 45 Prozent aller Frauen zwischen 25 und 44 single sein werden – also im Grunde die Hälfte“, gibt Frasl zu bedenken. Für das weibliche Geschlecht bringt das weitere Vorteile: „Ohne Männer sind sie gesünder und glücklicher, leben länger, haben weniger Arbeit, verdienen mehr und haben bessere Karrierechancen. Sie sind sozial bestens eingebunden.“ Und gleichzeitig werde über eine „male loneliness crisis“ lamentiert, als sei es die naturgegebene Aufgabe von Frauen, die emotionalen Bedürfnisse von Männern zu erfüllen, kritisiert die Wiener Kulturwissenschaftlerin.

Das Gute daran: In einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen von der romantischen Paarbeziehung und der Romantik im Allgemeinen abwenden, werden sich auch immer mehr Menschen anderen Formen von Beziehung zuwenden und ihr engstes Fürsorgenetzwerk neu definieren. Dadurch wird sich auch das gesellschaftlich dominante und rechtliche Verhältnis von „Familie“ ändern müssen, ist Beatrice Frasl überzeugt. „Die Organisation unseres Lebens um romantische Beziehungen und Kleinfamilien herum ist kein Naturgesetz, sondern veränderbar.“ Ja, wir können anders l(i)eben, wenn wir es einfach tun.

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In einer postromantischen Welt steht die gegenseitige Fürsorge im Zentrum unserer Gesellschaft – auch Familie wird neu definiert.

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