
Daniel Schreiber widmet sich in seinem neuen Buch der politischen Kraft der Liebe. Ein inspirierendes Plädoyer dafür, der Welt – trotz Krisen, Gewalt und Angst – mit mehr Mitgefühl zu begegnen.
Sein Kalender füllt sich gerade auf „verstörende Weise“, gibt uns der Berliner Schriftsteller Daniel Schreiber einen kleinen Einblick in seinen Alltag als Autor, der den finalen Countdown zur Buchveröffentlichung durchlebt. Mit allen Hochs und Tiefs. Er gesteht: „Ich bin ehrlich gesagt nicht besonders gut im Rampenlicht. Mich macht das immer nervös.“ Die Spannung steigt, denn für Schreiber ist die kommende Publikation die Wichtigste, die er je geschrieben hat. „Liebe! Ein Aufruf“ erscheint am 18. November bei Hanser Berlin.
Auf 138 Seiten erforscht der Schriftsteller, Kolumnist und Übersetzer die Geschichte der Liebe als politische Kraft. Er meint damit eine Art Empathie für die Welt, die ein machtvolles Korrektiv zu den derzeitigen gesellschaftspolitischen Entwicklungen darstellen kann. Das Thema begleitet Schreiber schon länger. Im März kuratierte er ein Literaturfestival in München unter dem Motto: „Sprachen der Liebe. Wie wollen wir leben?“. Und jetzt veröffentlicht er eben ein Buch darüber. „Ich glaube, dass unsere einzige Möglichkeit, der Welt zu begegnen, in einer politischen Idee von Liebe besteht“, meint er. Für Schreiber ist Liebe mehr als die romantischen, familiären oder freundschaftlichen Formen, auf die sie oft reduziert wird. „Kulturhistorisch betrachtet ist es ein relativ junges Phänomen, dass wir sie vor allem in ihrem romantischen Sinn verstehen. Seit der Antike wurde die Liebe immer wieder auch als gemeinschaftliches Prinzip verstanden. Oft wurde das als ihr Hauptzweck betrachtet“, erklärt der Bestsellerautor. Interessanterweise haben sich viele der bedeutendsten politischen Bewegungen auch schon auf Ideen von Liebe bezogen, zum Beispiel Leo Tolstoi während der Bauernaufstände in Russland oder Mahatma Gandhi im indischen Unabhängigkeitskampf. Aber auch Hannah Arendt oder Erich Fromm waren für Schreiber „augenöffnend“: „Ich hatte ein völlig falsches Verständnis dieser Ideen, und bei meiner Neulektüre ist mir aufgefallen, welche bahnbrechenden Antworten sie auch für unsere heutige Zeit beinhalten“, beschreibt Schreiber seine Beweggründe, sich genau jetzt diesem Thema zu widmen.
Gerade heute, da Ohnmacht gegenüber Gewalt, Krieg und multiplen Krisen als politisches Grundgefühl 24/7 auf allen Kanälen mitschwingt. „Es ist eklatant, wie sehr wir uns als Gesellschaft von jeder Idee verabschiedet haben, die Welt und das Leben für uns alle besser zu machen. Wir müssen uns bewusst werden, dass unser System für viele Menschen nicht mehr funktioniert“, warnt Schreiber. „Und wir müssen die rechtsextrem neoliberale Übernahme aufhalten, die uns zu ersticken droht.“ Was tun? Darf man sich verkriechen, sich vom überfordernden Zustand der Welt abwenden? Wie kann man unter solchen Vorzeichen überhaupt noch Zuwendung zur Welt empfinden, wenn alles so furchtbar anstrengend geworden ist?
Power of Love
Auch der Essayist fragt sich, warum es ihm so schwerfällt, die Welt zu lieben. Und er weiß, dass er damit nicht allein ist. „Fast allen meiner Freund:innen ging es ähnlich wie mir. Manchmal kam es zu langen, ernsten Gesprächen, die sich mal hoffnungsvoll, mal hoffnungslos anfühlten und die mit der Erleichterung endeten, nicht allein mit diesem Gefühlszustand zu sein, aber auch mit der Einsicht, wie schwer es fiel, angesichts der Lage der Welt, die seit Jahren ungebremst eskalierte, Zuversicht zu bewahren.“ Schreibers Haltung ist klar. Er mahnt: „Wir haben gute Gründe für eine Dissoziation. Wir müssen irgendwie durch unseren Alltag kommen, aber wir müssen auch unsere Welt gestalten, aktiv werden und Missständen kollektiv entgegentreten.“
Die Möglichkeiten, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, sind vielfältig, weiß er. „Wir können den Menschen in unserem Alltag mit radikaler Freundlichkeit begegnen. Das Große beginnt immer im Kleinen, die Welt ist ein Abbild unserer Beziehungen.“ Schreiber rät konkret dazu, sich kleine Gemeinschaften zu suchen oder neu zu erschaffen. Kollektive, in denen wir Kräfte sammeln können, um politisch aktiv zu werden und unsere Gestaltungsmacht zurückzugewinnen. „Es ist mir so wichtig, dass wir uns darauf besinnen, was wir lieben und wofür wir kämpfen müssen“, fordert er.
Konfrontationstherapie
Schreiber legt den Finger in die Wunde. Schon immer wagt er sich mit seinen Geschichten dorthin, wo es so richtig unbequem wird. „Im Zentrum meiner Bücher stehen Fragen, die ich mir selbst lange nicht stellen wollte und die wir uns als Gesellschaft ungern stellen“, erklärt der Autor seinen Zugang zum Schreiben. Er möchte zu einer Art inneren Arbeit anregen, der wir oft ausweichen. Auf der Medienplattform Steady verschickt Schreiber dazu einen Newsletter über „die schwierigen Fragen des Lebens“. Seine Arbeit verlangt ihm ganz schön viel ab, könnte man meinen. Im „Spiegel“-Bestseller „Die Zeit der Verluste“ (2023) beispielsweise verarbeitete er den Tod seines Vaters und ergründet unsere private und gesellschaftliche (Un-)Fähigkeit zu trauern. Er plädiert dafür, den Schmerz auszuhalten, überfordernde Gefühle sichtbar machen, aber auch Ambivalenzen anzunehmen. Immer wieder surft er in seinen Geschichten durch eine Hochschaubahn der Gefühle, klug, erhellend und einfühlsam. Nicht umsonst wird Daniel Schreiber vom deutschen Feuilleton als „Meister des Trostes“ gefeiert. „Wer ein Buch von Daniel Schreiber liest, blickt danach anders auf das eigene Leben“, streut Autorin Fatma Aydemir dem Schriftsteller als Buchblurb Blumen. Auch sein literarischer Essay „Allein“ (2021) wurde ein „Spiegel“-Bestseller. Er sucht darin eine Antwort auf die Frage, wie wir heute leben wollen, in einer Zeit, in der so viele Menschen wie noch nie zuvor allein leben. Kann man allein glücklich sein? Sind Freundschaften eine Antwort auf den Sinnverlust in einer krisenhaften Welt? Genau diesen Gedanken greift Schreiber jetzt wieder auf: „Liebe kann so viel bewirken. Sie kann dafür sorgen, dass wir Hoffnung schöpfen. Sie kann uns motivieren, Inseln des Widerstands zu schaffen.“
Zuversicht
Dass es keine großen, einfachen Antworten gibt, ist ihm bewusst. Schreiber weiß, dass jede beziehungsweise jeder nur in ihrem oder seinem Tätigkeitsbereich etwas verändern kann, um Hoffnungsmomente zu kreieren und der „Sprache der Liebe“ auf die Spur zu kommen. Das können auch Orte sein, an denen man sich einfach nur zu Hause fühlt, oder neue Gedanken im Austausch mit anderen. „Die Liebe ist der Grund, weiterzukämpfen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Es ist noch nicht zu spät, eine politische Stimme zu finden und diese auch zu nutzen, um für etwas einzustehen“, meint er abschließend. Schreiber gibt sich optimistisch: „Es ist möglich, zu einer echten Zuversicht und zu einer Handlungsfähigkeit zurückzufinden, und es würde mich wahnsinnig freuen, wenn dieses Buch einen Beitrag dazu leistet.“


Daniel Schreiber hat ein Buch über Widerstand, Trost und das Wiederfinden der eigenen politischen Stimme geschrieben: „Liebe! Ein Aufruf“, Hanser Berlin, € 22,–.


