
Glückliche Jungs, die frei von toxischen Männlichkeitsbildern aufwachsen – wie kann das gelingen? Autorin Anne Dittmann über Geschlechterrollen, „Müttersöhnchen“ und das Schweigen der Männer.
Was brauchen unsere Buben heute? Das fragte sich Anne Dittmann, alleinerziehende Mutter eines Neunjährigen, und begann mit der Recherche für ihr neues Buch. „Es gab vor zwei Jahren nämlich noch keinen Ratgeber, der mir zeigen konnte, wie ich meinen Sohn ganz praktisch erziehen soll“, erinnert sich die Berliner Bestsellerautorin. Heute weiß sie es besser: In „Jungs von heute, Männer von morgen“ (Kösel) versammelt Dittmann wertvolle und lebensnahe Tipps für den Alltag. Und zwar für alle, die Männer von morgen mutig unterstützen möchten.
Kein Sexist, kein Mansplainer und kein Täter – negative Vorgaben, wie junge Männer nicht sein sollen, beschäftigen natürlich viele Eltern von Buben. Was brauchen unsere Burschen?
Wir dürfen Jungs und Männer dazu auffordern, sie selbst zu sein, ihre Persönlichkeit zu entfalten, sich zu trauen, über ihre Ängste und Sorgen zu sprechen. Ihnen zeigen, dass sie bei uns auch Tränen rauslassen können. Es ist wichtig, dass wir uns immer wieder bei der Erziehung fragen: Würde ich genauso reagieren, wenn mein Sohn meine Tochter wäre? Wir können davon ausgehen, dass Jungs und Männer auch weich sind, um ihnen zu helfen und zu ermöglichen, es dann auch wirklich zu sein und zu zeigen. Sie sind wie Mädchen und Frauen – wenn wir sie lassen. Und wir sollten sie lassen, weil wir uns darüber alle wieder näherkommen können.
Wo lagen wir denn beim Aufziehen von Buben bisher falsch?
Unsere Eltern und Urgroßeltern haben ihre Söhne beschämt, wenn sie sich weich und verletzlich gezeigt haben. Da hieß es dann: Ein Junge zeigt keinen Schmerz. Ich sehe noch heute, dass es für Männer eine besondere Schande ist, wenn sie gegen eine Frau ein Spiel verlieren. Sie nehmen das persönlich, weil es für sie persönlich ist; ein direkter Gesichtsverlust. Das geht an die Identität. Und dann wundern wir uns, wenn Männer in bestimmten Phasen ihres Lebens Frauen hassen? Damit legitimiere ich die Gewalt nicht, sondern erkläre, dass sie leider Teil dieses Systems und Teil dieser toxischen Männlichkeit ist, die wir über Jahrhunderte herangezogen haben.
Was genau versteht man unter „toxischen Männlichkeitskonzepten“?
Toxische Männlichkeiten nutzen Gewalt, um sich selbst ihrer Männlichkeit zu versichern – und die ist sehr leicht zu verlieren. Da reicht schon Arbeitslosigkeit aus, also wenn ein Mann seine Familie nicht mehr ernähren kann. Dann fühlt er sich wertlos und muss dieses Gefühl der Hilflosigkeit nach außen hin abspalten, statt es zuzulassen. Gefühle werden also bei toxischen Männlichkeitskonzepten immer externalisiert. Das kann sich gegen andere – etwa gegen die eigene Partnerin – oder sich selbst richten.
Wie zeigt sich das konkret?
Zum Beispiel riskieren Jugendliche und Männer ihren Körper beim Wetttrinken, beim Rasen auf der Autobahn, bei einer Prügelei, beim Konsum von Drogen. Nicht zufällig sterben dreimal mehr Männer durch Suizid als Frauen. In der Wissenschaft hat man mittlerweile ein zuverlässiges Messinstrument entwickelt, um herauszufinden, inwieweit die traditionellen Männlichkeitsnormen im Denken einer Person verankert sind: das „Conformity to Masculine Norms Inventory“ (CMNI). Es umfasst elf Punkte: Gewinnen, emotionale Kontrolle, Risikobereitschaft, Gewalt, Dominanz, Playboy, Selbstständigkeit, Vorrang der Arbeit, Macht über Frauen, Geringschätzung von Homosexuellen und Streben nach Status.
Kinder, die eine geschlechtsneutrale Erziehung genießen dürfen, sind besser in der Schule, resilienter und gesünder.
Auf welche positiven Werte können wir uns stattdessen fokussieren?
Unsere Söhne müssen den Wert der Selbstfürsorge und Fürsorge erlernen. Wir wollen ja nicht nur irgendetwas aus ihnen „herauserziehen“, sondern wir brauchen eine positive Richtung. Zum Beispiel wird in vielen Alltagssituationen von Jungen erwartet, wild, in Action zu sein, über ihre Grenzen zu gehen, sich nicht zu spüren, hart zu sein. Aber wie sollen sie dann die Grenzen von anderen spüren, wenn sie ihre eigenen nicht kennen? Es ist auch als Bub unheimlich wichtig, in guter Verbindung mit den eigenen Gefühlen und mit dem Körper zu sein, ihn zu pflegen und nach der Action dann auch einmal ruhen zu lassen.
Inwiefern schaden Geschlechternormen Buben beim Aufwachsen darüber hinaus?
Mädchen sind eben nicht von Natur aus besser im Malen, und Jungs sind nicht von Natur aus besser beim logischen Denken. Wir müssen es so sehen: Wenn wir unsere Söhne anders erziehen als Mädchen, dann geht ihnen die Hälfte ihres Entwicklungspotenzials verloren. Wir wissen längst, dass Kinder, die eine geschlechtsneutrale und vielfältige Erziehung genießen dürfen, besser in der Schule sind, resilienter sind und gesünder leben.
Warum stehen so wenige Männer dafür auf, wenn es darum geht, unsere Söhne anders, fernab einer Virilität nach Frauenhasser Andrew Tate, zu erziehen?
Weil es sie sehr verletzlich macht, sich für irgendetwas, das ihnen wirklich wichtig ist, einzusetzen, dafür aufzustehen und laut zu werden. All das ist relativ unmännlich und kann sich sehr bedrohlich für die eigene Männlichkeit anfühlen, die eher dazu auffordert, stoisch wie ein Stein die Sache auszusitzen und zu schweigen.
Die mediale Debatte konzentrierte sich bisher stark darauf, woher Jungen denn moderne männliche Vorbilder kriegen können. Wie sehen Sie das?
Warum nehmen wir nicht die Frauen und Mütter? Mein Sohn selbst sagte auch im Alter von acht Jahren, dass ich sein Vorbild sei. Wer will mir verbieten, für meinen Sohn ein modernes Vorbild zu sein? Ich beschäftigte mich mit Sigmund Freuds Ödipuskomplex und fand heraus, dass das vermutlich die Ursache dafür ist, dass wir Jungs zu Männern schicken, à la „Guck doch mal, woran der Papa in der Garage bastelt“, und enge Mutter-Sohn-Beziehungen mit „Muttersöhnchen“ kommentieren.
Was meinen Sie damit?
Mädchen sollen wie ihre Mamas werden und Jungs wie ihre Papas. Dabei gab es nach Freud schon längst auch feministische Psychoanalytikerinnen wie Nancy Chodorow, die gesagt haben, dass sich Buben vermutlich nur deswegen an ihren Vätern orientieren, weil wir – aufgrund von „Muttersöhnchen“-Ängsten – sie als Mütter ab einem gewissen Alter von uns wegstoßen, vermutlich unbewusst. Was, nebenbei gesagt, eine sehr schmerzhafte Erfahrung für sie ist. Darum plädiere ich stärker als je zuvor dafür, dass sich Frauen und Mütter als moderne Vorbilder anbieten.


Lebensnahe Anleitung: Wie wir unsere Söhne in Empathie und Fürsorge schulen können. Kösel, € 18,00.
© Kösel Verlag