Logo

"Die Vegetarierin" an der Burg: Radikale Befreiung

Subressort
Aktualisiert
Lesezeit
9 min
Kotti Yun und Marie Schleef am Lusterboden des Burgtheaters

Der Lusterboden des Burgtheaters bietet einen imposanten Blick über Wien. Aufs Dach konnten wir aufgrund des Windes mit Kotti Yun (l.) und Marie Schleef (r.) nicht steigen.

©Christoph Liebentritt
  1. home
  2. Culture
  3. Kultur

Was, wenn eine Frau einfach nicht mehr mitmacht? Davon handelt „Die Vegetarierin“ der Nobelpreisträgerin Han Kang. Die Regisseurin Marie Schleef bringt den Stoff in Wien mit der koreadeutschen Schauspielerin Kotti Yun auf die Bühne.

Nicht einmal zehn Minuten hat es gedauert, dann waren fast alle Karten für die Premiere von „Die Vegetarierin“ am 9. Mai im Akademietheater verkauft. „Wir waren davon sehr überwältigt“, sagt Marie Schleef, Regisseurin der deutschsprachigen Erstaufführung des gleichnamigen Weltbestsellers der südkoreanischen Autorin Han Kang. Dieser erschien 2007 erstmals in Südkorea – und verhalf ihr mit etwas Verzögerung zu internationaler Bekanntheit. Erst fast zehn Jahre später wurde das Buch 2016 auf Deutsch veröffentlicht, im selben Jahr gewann Kang dafür den „Man-Booker-International-Preis“. 2024 wurde die Schriftstellerin mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. „Die Vegetarierin“ (Aufbau Verlag, € 13,–) erzählt von einer Frau, die eines Tages beschließt, kein Fleisch mehr zu essen und zu kochen, was zu gewalttätigen Reaktionen bei ihrem Ehemann und ihrem Vater führt. Im weiteren Verlauf befreit sich die Protagonistin von ihrem BH, träumt davon, eine Pflanze zu werden – und löst sich dadurch nach und nach von allen gesellschaftlichen Zwängen. Handelt es sich dabei um einen Akt der Befreiung oder der Selbstzerstörung? Das ist nur eine von vielen Fragen, die der Stoff aufwirft.

Seit rund vier Wochen wird das Stück zum Zeitpunkt unseres Interviews Mitte April in Wien geprobt. Schleef und die Schauspielerin Kotti Yun, die die Vegetarierin spielt, haben beide ihren Lebensmittelpunkt in Berlin und nutzen die Pausen, um verschiedene Wiener Kaffeehäuser kennenzulernen. Nach dem Shooting am Lusterboden des Burgtheaters ging es deswegen für uns ins nur wenige Meter entfernte Café Landtmann. Dort sprachen die beiden über familiären Druck, die Kraft der Verweigerung – und radikale Selbstbestimmung.

WOMAN

Wann war der Moment, in dem Sie beschlossen, „Die Vegetarierin“ muss auf die Bühne, Frau Schleef?

Marie Schleef

Ich habe den Roman gelesen und wusste sofort: Das will ich machen. Wie genau, war mir noch nicht klar – aber ich habe die Rechte angefragt. Das ist oft ein jahrelanger Prozess. Es war also eher eine Übersprungshandlung, bevor ich einen Plan hatte, wie ich das jetzt konkret angehen sollte. Das war sogar zwei Jahre, bevor der Nobelpreis an Han Kang verliehen wurde.

WOMAN

Sie hatten sozusagen den richtigen Riecher?

Marie Schleef

Es war für mich schon eine Minibestätigung, dass ich mit dem Text ein gutes Gefühl gehabt hatte. Es ist ein sehr provokanter Stoff für die Bühne – brutal und explizit. Da hatte ich gewisse Ängste, wie mir die Umsetzung gelingen kann. Darum bin ich umso dankbarer, dass Kotti für die Rolle der Vegetarierin zugesagt hat – aber auch für alle anderen Schauspieler:innen, die ich vorher noch nicht kannte.

Es ist ein sehr provokanter Text für die Bühne – brutal und explizit.

Marie Schleef
Marie Schleef

Marie Schleef am Dachboden des Burgtheaters

 © Christoph Liebentritt
WOMAN

Frau Yun, was hat Sie an der Rolle von Yong-Hye, der Vegetarierin, gereizt?

Kotti Yun

Die Verweigerung. Sie ist eine Figur, die irgendwann einfach nicht mehr mitmacht. Nicht aus Kalkül oder weil sie ein Zeichen setzen will, sondern weil sie ums Überleben kämpft. Alles in ihr schreit: Ich kann nicht mehr. Sie trägt keinen BH mehr, hört auf, Fleisch zu essen, kann nicht mehr schlafen. Sie will niemandem mehr Gewalt zufügen – auch Tieren nicht. Nach und nach führt ihr Verhalten dann zur Selbstauflösung.

WOMAN

Wie nähert man sich einer Figur, die sich auflöst?

Kotti Yun

Beim ersten Lesen habe ich mich tatsächlich der älteren Schwester von Yong-Hye sehr nahe gefühlt, die alles dafür tut, um in der Gesellschaft zu funktionieren. Je öfter ich den Roman gelesen habe, desto stärker habe ich mich generell auf die Stimme von Han Kang eingelassen. Aber auch auf ihre Art zu arbeiten, für die Langsamkeit essenziell ist, wie sie in Interviews erzählt. Ich habe immer wieder versucht, ihre Sprache zu hören und mir ihre Stimme vorzustellen, wie sie sich selbst ausdrücken würde.

Die Protagonistin verweigert sich nicht, weil sie ein Zeichen setzen will, sondern um zu überleben.

Kotti Yun
Schauspielerin Kotti Yun am Dachboden des Burgtheaters

Die Schauspielerin Kotti Yun

 © Christoph Liebentritt
WOMAN

Was löst Han Kangs Sprache in Ihnen als Theatermacherin aus?

Marie Schleef

Sprache macht mit mir generell viel auf der Bühne, weil in meinen Stücken nicht so oft geredet wird. Tatsächlich waren die letzten Arbeiten, die ich inszeniert habe, ohne Sprache, da ist alles sehr verlangsamt und in Slow Motion abgelaufen. Das heißt, die Sprache hat in Zwischenräumen stattgefunden. Wenn sich jemand in fünf Minuten von A nach B bewegt, dann erzählt jeder Schritt etwas. Im Zuge der Nobelpreisverleihung habe ich ebenfalls viele Interviews mit Hang Kang für mich entdeckt. Darin berichtet sie, wie sehr sie sich für Langsamkeit und das Leise interessiert. Das ist die Art und Weise, wie ich seit Jahren Stoffe verarbeite.

WOMAN

Sie inszenieren vor allem Texte von Frauen. Wieso?

Marie Schleef

Während meines gesamten Studiums in Deutschland habe ich keinen einzigen Text einer Frau auf die Bühne gebracht. Mir ist damals auch aufgefallen, wie schwer es mir fiel, mich mit dem vorherrschenden Kanon zu identifizieren. Ich hatte das Bedürfnis, Stoffe zu finden, die nicht so oft gemacht werden, solche, in denen sich meine Kolleginnen wiederfinden können. Da gibt es im deutschsprachigen Raum viel Aufholbedarf.

WOMAN

Frau Yun, Sie kennen die koreanische Gesellschaft, aber auch die deutsche. Inwiefern ist „Die Vegetarierin“ auch eine Kritik an der Familie als Ordnungssystem?

Kotti Yun

In Korea ist die soziale Kontrolle durch die Familie nach wie vor sehr stark. Es gibt einen vorgefertigten Lebenslauf, von dem erwartet wird, dass man ihn einhält, vor allem als Frau: Uni, Heirat, Kinder. Auch in „Die Vegetarierin“ versucht die Familie, sie wieder auf den „rechten Weg“ zu bringen, und drängt sie dadurch in die Selbstzerstörung.

WOMAN

Ist „Die Vegetarierin“ für Sie ein feministischer Text?

Marie Schleef

Absolut. Schon die Thematik ist inhärent feministisch: eine Frau, die sich radikal entzieht – einem patriarchalen System, einer Gesellschaft, in der Männer bestimmen, was normal ist.

WOMAN

Am Ende steht die Zwangsernährung per Sonde ...

Marie Schleef

Wenn man die Geschichte verkürzt sieht, könnte man denken, dass die Figur tragisch endet. Ich sehe die Protagonistin aber kraftvoll. Nicht unbedingt als eine Frau, die sich das Leben nimmt, sondern als eine, die es geschafft hat, in einen anderen Zustand zu kommen. Am Ende geht es um die eigene Selbstbestimmung: Darf ich als Mensch darüber entscheiden, was ich mit meinem Körper mache? Vor allem als Frau. Da finde ich es unglaublich feministisch, zu sagen: Ich habe ein Recht, über meinen eigenen Körper zu bestimmen, was ich esse und was ich tun möchte – und was nicht.

Kotti Yun

Es ist eine radikale Befreiung.

Über die Autor:innen

-20% auf das WOMAN Abo