
„Gartenarbeit fetzt“, stellte Sarah Kuttner schon vor geraumer Zeit fest. Nach 46 Jahren in der Stadt lebt die gebürtige Berlinerin heute in einem kleinen Häuschen mit großem Garten.
©Laura Hoffmann / Junala.deSarah Kuttners neuer Roman handelt von Love Scamming, Verlust und Nähe. Warum das Thema für sie persönlich ist und sie heute lieber Fadenalgen zupft als in Berlin lebt, erzählt sie im Gespräch.
"Hallo, Sarah Kuttner hier“, klingt es gut gelaunt vom anderen Ende der Leitung. Wo sonst oft eine Agentin oder ein Assistent den Anruf vorbereitet, nimmt die gebürtige Berlinerin selbst das Telefon in die Hand. „Du kannst übrigens jederzeit dazwischengrätschen. Ich verfahre mich manchmal ein bisschen“, sagt sie fast entschuldigend. Völlig unnötig: Kuttner erweist sich als wache, direkte Gesprächspartnerin, die Antworten im Hyperfokus liefert und ihr Gegenüber immer wieder aktiv anspricht und mitnimmt. Die 46-Jährige, die in den 2000er-Jahren als Moderatorin mit ihren eigenen Shows bei den Musikfernsehsendern VIVA und MTV bekannt wurde, ist heute eine regelrechte Allrounderin: Sie betreibt einen YouTube-Kanal, in dem sie unter anderem über ADHS aufklärt – eine Diagnose, die Kuttner erst im Erwachsenenleben erfahren hat –, und moderiert beispielsweise seit 2017 den Podcast „Das kleine Fernsehballett“ mit Stefan Niggemeier. Außerdem hat sie seit 2009 vier Romane veröffentlicht. Gleich der erste („Mängelexemplar“, Fischer Taschenbuch Verlag, € 14,–) wurde ein Bestseller und verfilmt. Nun erscheint mit „Mama & Sam“ der fünfte. Eine Tochter sieht sich darin nach dem Tod ihrer Mutter mit einer chaotischen Wohnung, einem vollen Briefkasten und Chat-Nachrichten von einem Love Scammer konfrontiert. Die digitalen Spuren zeigen aber nicht nur die verletzliche Seite der Mutter, sondern lassen die Tochter auch eine neue Nähe zu ihr entdecken.
Im Gespräch erzählt Sarah Kuttner, wie das Buch den Blick auf ihre eigene Mutter verändert hat und warum ihr das Thema so am Herzen liegt.
Wie schreibt man über die eigene Mutter, ohne sie – oder sich selbst – zu verraten?
Ich habe das Buch in der Zeit geschrieben, nachdem meine Mutter gestorben war. Die Geschichte ist davon inspiriert, dass sie tatsächlich einem Love Scammer aufgesessen ist. Aber es ist eben ein Roman und keine Biografie. Man muss sich das wie eine Schüssel vorstellen, in die 1.000 Sachen reingeschmissen werden, und die Hälfte davon gehört mir, die andere Hälfte Freunden – oder es sind Sachen, die ich gelesen habe. Gleichzeitig stecken darin viele echte Gefühle von mir über Tod, Abschied und Nachlass. Mir ging es aber darum, eine Geschichte zu erzählen, die für viele Leser:innen gültig ist, denn so etwas passiert überall. Es spricht nur kaum jemand darüber, weil es so furchtbar peinlich ist.
Weil Love Scamming auch ein bisschen ins Lächerliche gezogen wird?
Genau. Die erste Reaktion ist fast immer: „Wie dumm kann man sein?“ Das war auch meine, als ich davon erfuhr: „Hä? Bist du bekloppt? Hier sind doch alle Beweise!“ Aber so funktioniert es nicht. Ich habe Zeit gebraucht, um zu verstehen, was da eigentlich passiert war. Niemand, der ein Opfer von Love Scamming wird, ist doof. Auch meine Mutter war nicht dumm. Vielmehr handelt es sich um ein hoch kompliziertes und perfektes Verbrechen. Ich möchte, dass die Welt weiß, dass diese Leute nicht dumm, sondern bedürftig sind. In diesen Menschen ist eine Traurigkeit, eine Einsamkeit und ein Bedürfnis nach Zuneigung und Liebe. So sind wir als Menschen eben. Unsere Art basiert auf einem Miteinander, wir können nicht alleine existieren, sondern sind dafür gemacht, Gruppen zu bilden, aufeinander aufzupassen und Liebe zu geben. Wenn dieses Grundbedürfnis nicht erfüllt wird, geht es nicht einfach weg. Es entsteht ein Leid, das einen Menschen anfälliger dafür macht, dass er von jemandem gesehen und ausgenutzt wird.
Sie haben echte Chatprotokolle Ihrer Mutter in den Roman integriert. Warum?
Weil ich mir das niemals hätte ausdenken können. Ich wollte zeigen, wie so etwas tatsächlich abläuft, weil sich niemand vorstellen kann, dass man darauf hereinfällt. Meine Mutter war belesen, klug, kulturell interessiert. Ich bin stolz auf sie, gerade im Nachhinein. Und trotzdem ist es ihr passiert. Nicht, weil sie dumm war, sondern weil ihr ein Grundbedürfnis fehlte. Sie war liebevoll genug, um mitzumachen. In der Welt der Opfer führen sie eine echte Beziehung mit einem Mann im Internet, der Probleme hat. Natürlich hilft man da, leiht Geld, unterstützt. Nichts daran ist verwerflich.
Bei aller Tragik ist der Roman auch humorvoll und komisch. Ist das eine Art Schutzmechanismus von Ihnen?
Das weiß man nie so genau. Ich bin einfach lustig. Humor kann ein kurzer Release sein und helfen, dass die Anspannung kurz weggeht. Wenn man es super streng psychologisch betrachtet, ist wahrscheinlich mein ganzer Humor eine Bewältigungsstrategie. Aber ich mache das nicht absichtlich. Ich schreibe meine Gedanken auf, und da mischen sich eben Sarkasmus, Wut oder Lustigkeit hinein. Meine Mutter war auch witzig, das habe ich von ihr. Insofern ist es auch eine Art, Danke zu sagen, dass dieser Ton im Buch Platz haben darf.
Warum ist gerade die Beziehung zur eigenen Mutter so kompliziert?
Es ist natürlich, eine komplizierte Beziehung zu den Eltern zu haben. Anders als Freund:innen, sucht man sie sich nicht aus, sie werden einem zugeteilt. Man muss nehmen, was man kriegt. Wenn in der Kindheit etwas schiefgeht, weil es den Eltern selbst nicht gut ging, kann das das Leben eines Kindes nachhaltig prägen. Aber es hilft, einen Schritt zurückzutreten und die Eltern als Erwachsene mit Bedürfnissen, Ängsten und Fehlern zu sehen. Wir erwarten von ihnen oft Perfektion, weil sie diejenigen sind, die das Sagen haben. Den Switch, dass sie ganz normale Menschen sind, kriegen aber viele Leute nicht hin, weil sie in alten Rollenbildern gefangen bleiben.
Es hilft, Eltern als ganz normale Menschen mit Bedürfnissen, Ängsten und Fehlern zu sehen.
Inwieweit war Ihnen das vor dem Schreiben des Buches bewusst?
In der Theorie war mir das klar. Ich gehe seit Ewigkeiten zur Therapie und interessiere mich unfassbar für menschliches Verhalten. Richtig gespürt habe ich es aber nicht, weil in mir trotzdem ein verletztes Kind wohnt. Erst die unfreiwillige Auseinandersetzung damit und dem Chat hat mir gezeigt: Meine Mutter war weder dumm noch falsch noch gemein. Sie hat Entscheidungen in ihrem Leben getroffen, die sie in diesem Moment nur so treffen konnte.
Sie gehen offen mit Ihrer ADHS-Diagnose um. Inwieweit hat das Ihre Arbeit beeinflusst?
Ich bin schon immer so offen gewesen. Weil meine geistige Gesundheit eher instabil ist und ich deshalb oft sensibel und erschöpft bin, will ich so wenig Aufwand wie möglich haben. Ich kann es mir schlicht nicht leisten, Energie darauf zu verschwenden, wie ich aussehe, oder so zu tun, als wäre ich jemand anders. Am wenigsten Anstrengung kostet es mich, einfach durchgängig ich selbst zu sein. Hätte ich nicht ADHS, hätte ich meinen Job wahrscheinlich nicht. ADHSler oder neurodivergente Menschen sind oft kreativ und witzig, ob aus einer Not heraus oder nicht. Insofern hat das mein gesamtes Leben und welche Entscheidungen ich treffe, beeinflusst. Bücher habe ich schon immer so geschrieben, wie ich es für richtig halte. Wie andere das machen, weiß ich nicht, die meisten brauchen jedenfalls mehr Zeit. Ich hingegen verliere meinen Hyperfokus schnell, wenn ich mich zu lange mit einer Sache beschäftige. Darum habe ich nie länger als sechs Monate an einem Buch gesessen. Und vom Verlag wurde mir dafür nie eine Grenze gesetzt oder irgendeine Verpflichtung auferlegt.
Sie sind vor zwei Jahren von Berlin in ein kleines Häuschen mit großem Garten gezogen. Was ist daran besser?
Ich bin in Berlin geboren und dachte lange, ich liebe diese Stadt und habe kein Problem mit der Lautstärke und den unhöflichen Menschen. Ich war überzeugt: Das ist genau meins. Aber rein körperlich – und auch gehirnwissenschaftlich betrachtet – ergibt das für jemanden wie mich überhaupt keinen Sinn, weil ich extrem reizanfällig bin. Auch unserem Gehirn tut eine natürliche Umgebung deutlich besser. Es kann sehr wohl unterscheiden zwischen einem eckigen, künstlichen Haus und einem Baum. Beim Anblick des Baumes ist es sofort entspannter. Und ich liebe Gartenarbeit. Das ist eine Art von Aufräumen, was Menschen mit ADHS auch sehr gerne mögen. Und es erdet einen ungemein, wenn man eine Blume einpflanzt, wenn es einem kacke geht.
Fehlt Ihnen die Stadt gar nicht?
Ich bin kein Hippie und glaube weder an Kristalle noch an Globuli. Aber ich merke, wie sehr mich die Natur runterbringt, und genieße es, gute Luft zu atmen, Vögel zu hören und mich mit Pflanzen auszukennen. Ein bisschen muss ich aufpassen, nicht zu vereinsamen. Wenn es nach mir ginge, wäre mein Leben vollkommen, wenn ich jeden Tag nur mit meinem Mann, meinem Hund und meinem Garten verbringen würde. Zum Arbeiten fahre ich regelmäßig in die Stadt, und es tut mir durchaus gut, dort unter Menschen zu sein, aber vermissen tue ich Berlin nicht. Ich hatte die Stadt 46 Jahre lang – und wohne ja nicht weit entfernt. Aber ich kann es schon jetzt nicht erwarten, gleich in meinen Teich zu steigen und ein paar Fadenalgen rauszuangeln.




