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Miriam Stein: "Ich will eine alte weise Frau werden"

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Aktualisiert
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11 min
Autorin Miriam Stein
Auf Spurensuche: Miriam Stein arbeitet als Kulturchefin der deutschsprachigen Ausgabe des "Harper’s Bazaar" und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Für ihr neues Buch besuchte sie Frauen, die sie als weise empfindet.©Debora Mittelstaedt
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Ihre Mission: Wir brauchen mehr Weisheit, vor allem von Frauen! Die Berliner Journalistin Miriam Stein surft in ihrem neuen Buch durch die Menschheitsgeschichte und erzählt, wie unsere Gesellschaft von Female Empowerment profitieren kann.

Für ihre zweijährige Recherche nach den vergessenen Heldinnen unserer Vergangenheit ist "Spiegel"-Bestsellerautorin Miriam Stein quer durch die Welt gereist: Stein besuchte für ihr viertes Buch, "Weise Frauen" (Goldmann Verlag), die indigenen Mapuche-Frauen im Süden Chiles, alte Schamaninnen in Korea und Köchinnen in Italien. Und sie sprach mit Weisheits- und Altersforscherinnen von San Francisco bis Klagenfurt, wie das Alter und Älterwerden in Zeiten von Selbstoptimierung kulturell neu gedacht werden kann. Warum glauben Frauen, dass sie nicht so gut netzwerken können wie Männer, obwohl es genug historische Beispiele für weibliche Bündnisse gibt? Was bedeutet es überhaupt, weise zu sein – und kann das eigentlich jede:r? Wie ein Perspektivenwechsel gelingen kann und was Magic Mushrooms damit zu tun haben – die Berliner Journalistin im WOMAN-Talk.

WOMAN

Was hat Sie dazu gebracht, diese persönliche Reise nach dem verlorenen weiblichen Wissen anzutreten?

Miriam Stein

Am Ende meines letzten Buches, "Die gereizte Frau", habe ich dazu aufgerufen, die Übergänge in unserem Leben mehr zu feiern. Dass wir Frauen vor den Wechseljahren noch einmal über die eigene Zukunft träumen sollen: Wer möchte ich in 20 Jahren sein? Das fragte ich mich und dachte: eine alte weise Frau. Leider wusste ich nicht, wie man das wird. Also begann ich mit der Recherche für mein Buch.

WOMAN

Was bedeutet für Sie Weisheit? Und wie wird man jetzt eine alte weise Frau?

Miriam Stein

Die Frauen, denen ich auf meiner Spurensuche begegnet bin, haben mich gelehrt, dass jede von uns das Potenzial in sich trägt, weise zu werden. Weisheit heißt für mich, seine eigene Welt immer wieder infrage zu stellen. Es ist ein bisschen wie eine Impulskontrolle, wenn man sich immer wieder fragt: Ist das jetzt eine kluge Reaktion? Man soll ehrlich zu seinen Gefühlen sein, aber trotzdem auch das große Ganze berücksichtigen.

WOMAN

Das klingt etwas abstrakt …

Miriam Stein

Ich glaube, die ultimativ weise Frau gibt es nicht, außer vielleicht die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer. Ich hatte das große Glück, sie vor ein paar Tagen zu treffen, und sagte zu ihr: "Frau Friedländer, ich wünschte, es gäbe mehr weise Frauen wie sie!" Und sie blickte mich an und meinte: "Das wünsche ich mir auch!" Ganz viele Frauen treffen weise Entscheidungen und sind sich darüber gar nicht im Klaren. Ich würde mir wünschen, dass ihnen das jemand sagt.

WOMAN

Und das tun Sie jetzt in Ihrem Buch …

Miriam Stein

Ja, das war auch meine Motivation. Ich möchte Frauen empowern, damit sie wissen, wie viel Weisheit sie schon gesammelt haben in ihrem Leben. Weise Frauen wissen, dass der Austausch von Lebensweisheit altersunabhängig ist, dass Gespräche über die Generationen hinweg unentbehrlich für eine feministische Weisheit sind. Sie kennen keine Altersdiskriminierung. Stattdessen ist ihnen bewusst, dass jede Phase des Lebens Weisheit benötigt und beinhaltet.

WOMAN

Auch die Kärntner Weisheitsforscherin Judith Glück plädiert für eine generationenübergreifende Annäherung. Wie kann das gelingen?

Miriam Stein

Glück sagt, Offenheit ist der Schlüssel zur Weisheit. In unserer Gesellschaft werden die Generationen und Alterskohorten viel zu oft gegeneinander ausgespielt. Wir müssen aber lernen, den Älteren zuzuhören.

Jede von uns trägt das Potenzial in sich, weise zu sein.

Miriam SteinAutorin
WOMAN

Womit beschäftigt sich die Weisheitsforschung aktuell?

Miriam Stein

Eine von Glücks Hypothesen ist, dass zum Beispiel die Kommentarsektionen bei Onlinemedien weniger brutal wären, wenn wir die Bewertungen der Kommentare nach einer Weisheitsskala ranken würden. Wie weise war der Kommentar? Es will ja niemand dumm dastehen. Eine tolle Idee.

WOMAN

Wertvolles Frauenwissen wurde immer wieder entwertet, zum Beispiel in der Medizingeschichte. Was haben Sie dazu herausgefunden?

Miriam Stein

Die ganze Menschheitsgeschichte hindurch gab es schon immer Heilerinnen und Hebammen. Hildegard von Bingen war eine der Ersten überhaupt, die im 12. Jahrhundert über den Zusammenhang zwischen dem weiblichen Zyklus und dem Kinderkriegen geschrieben hat. Irgendwann verschwanden Frauen aus der Medizin, es hieß dann: Sie sind zu wenig klug dafür, um Ärztinnen zu werden. Bis heute hat die Schulmedizin erstaunlich wenige Antworten für den weiblichen Körper. Weil so lange ausschließlich an Männerkörpern geforscht wurde und Endometriose, weibliche Zyklen und die Wechseljahre kein Thema waren. Nur: Frauen sind eben keine kleinen Männer.

WOMAN

Viele Heilerinnen haben in China und Thailand Kaiserschnitte praktiziert, und das schon vor langer Zeit, schreiben Sie. Geburten im Mittelalter waren quasi auch die Geburtsstunde von Frauennetzwerken.

Miriam Stein

Frauen waren im Mittelalter im Schnitt zehn Mal schwanger und brachten ihre Babys zu Hause auf die Welt – mit dabei waren nicht nur die Hebamme, sondern auch alle Freundinnen und Nachbarinnen aus der Gegend. Die Godsibs – also Geburtspatinnen – kamen in Horden zusammen und feierten die Geburt. Und beim Warten auf das Baby wurde eben wahnsinnig viel Wissen ausgetauscht. Von daher kommt auch das Wort Gossip – im Sinne von Tratschen.

WOMAN

Was heute ja negativ besetzt ist. Woher kommt das?

Miriam Stein

Man muss sich vorstellen, dass das "Frauengerede" unangenehm werden konnte für diejenigen, über die geredet wurde. Also hauptsächlich für mächtige Männer. Und so ist es im Lauf der Jahrhunderte verboten worden. Es ging bei den Geburten auch wild her. Genauso bei den Waschweibern – wo man sich traf, um gemeinsam zu arbeiten und die Wäsche sauber zu machen. Es ist sehr viel Intimes in schmutziger Wäsche. Auch dort wurde gesoffen, und man hatte viel Spaß, bis man diese Weiberzechen verbot.

WOMAN

Welche Begegnung auf Ihrer Recherchereise hat Sie am meisten berührt?

Miriam Stein

Das war tatsächlich die Krankenschwester, Heilpraktikerin und die Köchin Eui Ok Shu. Sie kam von Korea als Gastarbeiterin nach Deutschland. Ihre Großmutter war eine Wahrsagerin, ihr Großvater Schamane und Feng-Shui-Meister. Sie ist ihrer Rolle als weise Frau gerecht geworden in ihrer Heilpraktikerinnen-Praxis in Berlin, in der sie traditionelle chinesische und koreanische Medizin praktizierte. Sie erkannte immer schon den Wert in ihrer Arbeit, auch wenn die Gesellschaft ihr diesen nicht immer zurückgespiegelt hat. Sie weiß, dass sie eine weise Frau ist. Aber sie hat es sehr schwer gehabt. Was ich für mich mitnehme, ist, dass Weisheit nichts mit glücklich sein zu tun hat und mitunter aus den schwierigen und schmerzhaften Situationen im Leben entsteht.

WOMAN

Auf der Suche nach Weisheit haben Sie auch Magic Mushrooms im Rahmen eines Schamanen-Retreats in Amsterdam ausprobiert. Was hat Sie daran interessiert?

Miriam Stein

Ich habe mich schon lange mit dem therapeutischen Einsatz von Psychedelika beschäftigt und wollte das einfach mal versuchen, weil es mich faszinierte. In so vielen schamanischen Kulturen wird bewusstseinserweiternde Medizin zur Heilung und Reinigung verwendet. Meine Frage an die Substanz war, was vor meiner Adoption war. Ich wurde mit neun Monaten adoptiert. Und es war einfach nicht herauszufinden, was mit mir war, bevor ich von Südkorea nach Deutschland kam.

WOMAN

Haben Sie eine Antwort gefunden?

Miriam Stein

Ja, in Emotionen. Ich habe gefroren, man hat mir nichts zu essen gegeben, und ich erlebte unglaubliche Einsamkeit. Ich fühlte mich damals allein auf dieser Welt. Und das habe ich bei dem Retreat noch einmal gespürt. Alles, was wir jemals erlebt haben, ist in unserem Körper gespeichert. Bei mir war es eben die Todesangst, die ich als Baby erfahren habe. Das war in dem Moment wahnsinnig schrecklich, aber auch total heilend und hilfreich.

WOMAN

Wie würde eine Welt aussehen, in der man Frauenwissen nicht jahrzehntelang entwertet hätte?

Miriam Stein

Friedlicher, vermutlich, und weniger egoorientiert. Wäre weibliches Wissen gleich viel wert, würden wir auch gemeinschaftliches Arbeiten und Fürsorge viel höher bewerten. Dann könnten wir den Jugendwahn aufgeben und jungen Leuten die Last abnehmen, dass alle großen, wichtigen Entscheidungen in den ersten zehn Jahren des Erwachsenenlebens passieren müssen. Warum glauben wir, dass die Blütezeit unseres Lebens im ersten Drittel stattfindet, und beachten den Rest nicht mehr? Klar, wir sind nicht ein Leben lang fruchtbar, aber wir sollten aufhören, die Zeit abzuwerten, in der wir es nicht mehr sind. Ich glaube, unsere Welt wäre dann entschleunigter und weiser.

Weise Frauen: Warum unsere Gesellschaft mehr weibliches Wissen braucht – eine Spurensuche

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