
Die Schicksale unserer Eltern und (Ur-) Großeltern prägen uns bis heute. Psychotherapeutin Sabine Lück zeigt, wie wir die Ketten der Vergangenheit sprengen, um unseren Kindern eine glückliche Zukunft ohne ererbten Ballast zu ermöglichen.
"Wenn wir die Wunden unserer Vorfahren nicht heilen, verharren wir in deren Fesseln“, sagt die renommierte deutsche Psychotherapeutin Sabine Lück. Wir können uns dann nicht frei entfalten – und das hat Auswirkungen auf unser Berufs- und Privatleben. Beispiele dafür, wie so ein unfreies Leben aussieht, gibt es zuhauf. Frauen, die immer wieder an „den Falschen“ geraten. Männer, die sich schwer damit tun, eine finanzielle Basis aufzubauen. Der Sohn, der Maler werden möchte, aber pflichtbewusst die Apotheke seines Vaters übernimmt. Die Tochter, die sich nicht erklären kann, warum Angst ihr Leben bestimmt, obwohl sie doch in größter Sicherheit aufgewachsen ist. Sehnsüchte, die nie verwirklicht werden, emotionale Probleme, Scham und Schuldgefühle, Liebesunfähigkeit – dahinter stecken oft belastende Familienmuster. In der Fachsprache spricht man von transgenerationalem Trauma: „Darunter versteht man die Übertragung von schmerzvollen, nicht verarbeiteten Erfahrungen unserer Vorfahren auf die folgenden Generationen“, erklärt Lück. Manchmal scheint es auch, als würde eine Generation übersprungen, und die Folgen des Vererbten zeigen sich erst zwei oder drei Generationen später.
Wie Wunden vererbt werden
Ein Trauma ist eine seelische Wunde, die durch ein einmaliges oder wiederholtes Ereignis entstanden ist. Dieses Ereignis war so schmerzhaft, dass es ein Gefühl größter Verzweiflung hervorgerufen hat. Wird der oder die Betroffene bei der Bearbeitung und Integration des Traumas nicht unterstützt, entstehen Folgesymptome und Überlebensmuster, die zum Ziel haben, alles, was mit dem traumatischen Erleben verbunden war, zu meiden. Folgesymptome schmerzhafter Erlebnisse werden als „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) bezeichnet und können an die nächste Generation weitergegeben werden. Typische Anzeichen einer PTBS sind hohe Stresswerte, Unruhe, Ängste, Alpträume, Depressionen oder Antriebslosigkeit – und das, obwohl sich im Leben der Betroffenen kaum Faktoren finden lassen, die diese Symptome erklären können. „Aus meiner jahrelangen Praxiserfahrung weiß ich, dass sich in diesen Fällen zusätzlich zum Blick auf die persönliche Biografie auch der auf die Familiengeschichte lohnt“, so Lück.
Wie transgenerationale Themen „erworben“ werden, wird mithilfe der Epigenetik erklärt. Dieses noch relativ junge Teilgebiet der Biologie untersucht, wie die Aktivität von Genen beeinflusst wird. Umwelt und Erziehung – das bedeutet natürlich auch Beziehungen – können so prägend sein, dass sie die Funktion unserer Gene dauerhaft beeinflussen. Als „epigenetische Markierungen“ werden sie an nachfolgende Generationen weitergegeben. Aus Sicht der Evolution ergibt dies Sinn: „So können nicht gelöste Ereignisse in der nächsten Generation doch noch bearbeitet beziehungsweise aufgelöst werden“, erklärt Sabine Lück. Wichtig an dieser Stelle: Es werden keinesfalls nur traumatische Erlebnisse über Generationen „vererbt“, sondern auch „normale“ Erfahrungen, die zum Leben dazugehören: „Ebenso werden Ressourcen und Stärken weitergegeben, wie beispielsweise ein musikalisches Talent oder die Fähigkeit, mit Geld umgehen zu können.“
Der Treuevertrag
Tatsächlich liegt in jedem von uns auch ein tiefes Wissen zur Heilung. In ihrem neuen Buch „Vererbtes Glück“ (soeben erschienen bei Kailash) zeigt die Therapeutin, wie sich Eltern dysfunktionale alte Familienmuster bewusst machen und sie gemeinsam mit ihren Kindern auflösen können. Lück ist es zudem ein großes Anliegen, Fachleute auszubilden, damit diese Familien und anderen Expert:innen dieses Wissen weitergeben können. Basislektion Nummer eins: Zwischen Eltern und Kindern gibt es einen Treuevertrag. Das Kind bringt ihn von sich aus als Heilungsversuch ein: „Und zwar, indem es sein eigenes Potenzial unterdrückt und sich den Bindungspersonen für deren persönliche Weiterentwicklung zur Verfügung stellt“, verdeutlicht die Therapeutin. Dieser Treuevertrag mit den Eltern wird aus Liebe und Abhängigkeit geboren: „Je größer der Mangel, das Trauma, das Alleingelassenwerden waren, desto intensiver kompensiert das Kind.“ Mit gezielten Fragen gelingt es, den Treuevertrag zu entschlüsseln.
So etwa können sich Töchter fragen: „Worin darf ich meine Mutter nicht überrunden?“ Mit „Überrunden“ ist gemeint: Worin darf ich es nicht besser haben als meine Mutter? Von ihren Vätern wünschen sich Töchter vor allem, „erkannt“, also gesehen zu werden. Geschieht dies nicht, wollen Frauen um jeden Preis gefallen, sind vielleicht ihr Leben lang vom männlichen Blick abhängig. Die Schlüsselfrage zum Treuevertrag der Tochter mit dem Vater lautet daher: „Worin darf ich meinen Vater nicht enttäuschen?“ Bei Söhnen ist es etwas anders. Da lauten die entscheidenden Fragen: „Worin darf ich meinen Vater nicht überrunden?“ und „Worin darf ich als Sohn meine Mutter nicht im Stich lassen?“


Präsident Trump: Das größenwahnsinnige Kind
Besonders brisant wird dieses Thema, wenn wir als Kind Defizite mit narzisstischen Überlebensmustern ausgeglichen haben: „Trump etwa erlebte eine emotional wenig erreichbare Mutter und einen autoritären Vater. Man kann sich vorstellen, wie sehr er sich nach Liebe und Angenommensein sehnen musste. Das größenwahnsinnige Kind in ihm denkt vermutlich: ‚Wenn ich es schaffe, die ganze Welt zu regieren, werden meine Eltern stolz auf mich sein. Und dann können sie mich endlich annehmen und lieben‘“, analysiert Lück. Letztlich sehne sich jeder Mensch in seinem Innersten danach, sich selbst als liebenswert zu empfinden. In der narzisstischen Variante sei dieser Wunsch jedoch in Form einer Egostrategie entgleist: „Solange das FakeBild, das man über sich zusammenzimmert, aufrechterhalten werden kann, sind die dahinterstehenden Minderwertigkeitsgefühle verdrängt. Aber wenn es bröckelt, bricht die gesamte Konstruktion zusammen.“
Negative Muster stoppen
Die Auflösung des Treuevertrags gelingt mit der von Sabine Lück und ihrer Kollegin Ingrid Alexander entwickelten Generation-Code®Methode. Diese beschreibt fünf vom Kind ausgehende Heilungswege – sein Versuch, die Eltern mithilfe des kindlichen Treuevertrags reifen und zu stabilen Bezugspersonen werden zu lassen. Diese Heilungsimpulse sind oft die Ursache für das Entstehen von auffälligen Verhaltensweisen oder die Entwicklung von (Krankheits-) Symptomen. Lück zeigt in ihrem neuen Ratgeber zahlreiche Übungen für die ganze Familie, um die oft seit Generationen belastete Beziehungsfähigkeit zu stärken und wieder einen gesunden Umgang mit Emotionen zu erlernen. Auf diese Weise gelingt es auch, die Weitergabe von transgenerationalem Trauma zu stoppen. Vereinfacht dargestellt, sind dazu folgende Schritte notwendig:
- Reflexion...
...als erster Schritt zur Veränderung. Werden Sie sich Ihrer erlernten Familienmuster bewusst und verstehen Sie, wie diese Ihr Verhalten – sich selbst und Ihren Kindern gegenüber – beeinflussen.
- Biografiearbeit
Zu wissen, welche Wunde sich auch bei Ihren Kindern wiederfindet, wird vermutlich schmerzhaft sein. Doch nur so lässt sich die Verstrickung mit den traumatischen Erfahrungen der Ahninnen erkennen und verstehen.
- Bewusstwerdung
Wir bringen als Eltern unbewusste, über viele Generationen entstandene Rollenvorstellungen mit. Welche sind das? Gespräche mit Eltern und Großeltern können deren Erfahrungen und Einstellungen verdeutlichen. Welche Prägungen und Werte möchten Sie gerne weiterführen?
- Selbstfürsorge
Kinder brauchen glückliche Eltern: Nehmen Sie sich daher selbst mit Ihren Bedürfnissen und Grenzen wahr. Welche Sehnsüchte warten darauf, erfüllt zu werden? Wo überfordern Sie sich mit zu hohen Ansprüchen an sich selbst?
- Innere Kindarbeit
Verwechseln Sie Ihr inneres Kind nicht mit Ihrem realen Kind: Wenden Sie sich dem bedürftigen Teil Ihres Selbst zu und Ihren Schattenseiten! Das bedeutet einen Durchbruch in Bezug auf die Auflösung transgenerationaler Verstrickungen.
- Kommunikation
Tauschen Sie sich innerhalb der Partnerschaft über Vorstellungen hinsichtlich Kindererziehung aus. Blicken Sie gemeinsam auf Ihre jeweilige Familiengeschichte, und achten Sie dabei besonders auf Parallelen!
- Therapeutische Unterstützung
Nicht immer gelingt es uns, uns selbst zu helfen. Der neutrale Blick einer Therapeutin oder eines Familiencoaches ist dann sehr wertvoll. Zögern Sie nicht, professionelle Hilfe in Betracht zu ziehen!
Wie geben Sie die Wunde weiter?
Ein wesentlicher Schritt besteht auch darin, herauszufinden, welche Wunde man selbst weitergibt. Also: An welchem Punkt laufen Sie Gefahr, sich in alten Familienmustern zu verfangen? „Es gehört zur Natur der Evolution, dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Traumatische Ereignisse haben schwere Verletzungen hinterlassen, aber auch neue Erfahrungen im Umgang mit Leid gebracht“, weiß Sabine Lück. Die aus Krisen entwickelten Fähigkeiten sollen weitere Generationen vor einer Wiederholung schützen: „Unsere Vorfahrinnen wünschten sich ein besseres Leben für ihre Nachkommen. Und auch wir wollen, dass es unseren Kindern einmal besser geht als uns.“ Eine einfache, aber sehr wirkungsvolle Frage lautet daher: „Worin soll es mein Kind einmal besser haben als ich?“ Fast immer weist die Antwort auf eigene unerfüllte Bedürfnisse hin und darauf, dass wir diese Wunde unbewusst weitergeben. Die Erkenntnis mag schmerzen, ist jedoch ein Meilenschritt auf dem persönlichen Heilungsweg.