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Die Botanikerin der Gefühle

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Regula Dettwiler

©Lorenz Seidler

Welche Gefühle lösen Blumen in uns aus, und was können wir daraus lernen? Damit beschäftigt sich die Schweizer Bildhauerin Regula Dettwiler. Aus natürlichen und künstlichen Pflanzen erfindet sie kraftvolle Installationen, die zum Nachdenken anregen.

Über 15.000 Blumen hat Regula Dettwiler gesammelt. Genauer gesagt: Plastikblumen, die sie in den vergangenen vier Jahren aus Mülltonnen von Friedhöfen gefischt hat. Bunt und verspielt baumeln sie von der Decke der raumgreifenden Installation „Unvergesslich“ in der Landesgalerie Niederösterreich in Krems. Insgesamt bringt das Kunstwerk 250 Kilo auf die Waage. Und würde man die von Dettwiler aufgefädelten Fake-Blumen auf einer Linie aufreihen, wäre diese drei Kilometer lang. Die Schweizer Künstlerin und Bildhauerin hauchte den künstlichen Blumenüberresten aus Seide und Plastik in stundenlanger Handarbeit neues Leben ein. Warum eigentlich? „Es interessiert mich, mit einem Material zu arbeiten, in dem eine Geschichte eingeschrieben ist. Bei jeder Friedhofsblume hat jemand an einen verstorbenen Menschen gedacht. Persönliche Schicksale sind im Material verwoben“, erklärt die 59-Jährige die Idee dahinter, banale Abfälle in einer poetischen Installation zu verarbeiten.

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Regula Dettwiler

Pflanzen-Flüsterin. Regula Dettwiler arbeitet mit Botschaften und Geschichten, die wir mit Blumen verbinden. Ihre zweiteilige Ausstellung ist in der Landesgalerie NÖ bis 1.3.2026 zu sehen.

 © Lorenz Seidler

Flower Power

Seit über drei Jahrzehnten beschäftigt sich die Künstlerin mit botanischen Phänomenen und floralen Motiven an der Schnittstelle von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Die Begeisterung für die Natur bekam die Kreative schon früh in die Wiege gelegt. Der Vater, ein „Lehrer am Land“, wie sie beschreibt, hatte ein umfangreiches botanisches Wissen, das er bei den gemeinsamen Spaziergängen mit seiner Tochter teilte. Dass ihre Eltern „keine Helikoptereltern“ waren und sie als Kind so frei wie nur möglich in der Natur aufwachsen konnte, hat Dettwiler geprägt, meint sie. Nach der Matura schrieb sich die Schweizerin an der Akademie der bildenden Künste in Wien ein, um Bildhauerei bei Bruno Gironcoli zu studieren. Ihr Professor war es auch, der ihr für die künstlerische Laufbahn einen wichtigen Rat gegeben hat: „Von ihm habe ich gelernt, dass man voll und ganz zu seiner Arbeit stehen muss, egal, wer sie wie beurteilt.“ Heute lebt und arbeitet sie auf einem Hof im niederösterreichischen Kleinriedenthal.

Es sind die Botschaften und Geschichten von Pflanzen, die Dettwiler schon viele Jahre faszinieren. Welche Gefühle und Erinnerungen verbinden wir damit? Im zweiten Teil ihrer Ausstellung hat die Künstlerin ein „Herbarium der Gefühle“ kuratiert, das noch bis 1. März 2026 zu bewundern ist. Unzählige getrocknete und gepresste Gewächse sind dort ausgestellt, die Dettwiler über eine Sammelaktion von Menschen der Umgebung erhalten hat. „Es gibt ein großes Mitteilungsbedürfnis, wenn es darum geht, Geschichten über Pflanzen zu erzählen“, sagt sie über das Gemeinschaftsprojekt.

Die Blumenspenden fixierte sie wie in einem wissenschaftlichen Herbarium auf Papierbögen, mit der dazugehörenden Geschichte und dem Gefühl, das die Spender:innen damit verknüpfen. Darunter finden sich zum Beispiel drei Ginkgoblätter, die jemand nach einer Krebsoperation gefunden hat: „Ich war dankbar und freute mich über das leuchtende Sonnengelb der Glücksbringer“, schrieb er dazu. Oder 49 vierblättrige Kleeblätter, die eine hochbetagte Großmutter von ihren Spaziergängen mitbrachte. Das Enkelkind erinnert sich: „Sie stammen aus dem Garten, in dem ich meine Jugend verbrachte.“ Sein zugeordnetes Gefühl: Glück. Und genau so, mit dem Sammeln von Pflanzengeschichten, entstand ein großes Gefühlsarchiv der persönlichen Momentaufnahmen, das zum Nachdenken inspiriert.

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Regula Dettwiler

Wiederbelebt. In bunten Bündeln hängen die von Dettwiler kuratierten Friedhofsblumen von der Decke. Die in den Plastikpflanzen gespeicherten Erinnerungen haben eine überwältigende Aura.

 © Christian Redtenbacher

Kunst der Empathie

Wer Emotionen mit Pflanzen verbindet, zeigt vielleicht auch Empathie für soziale Zusammenhänge“, meint Dettwiler. Mitgefühl für unsere Umwelt, sei es nun für Menschen, Pflanzen, Dinge oder Kunstwerke, sind für sie eine der wichtigsten Grundlagen, um mit der Welt zu interagieren. „Wir sehen unseren Lebenszyklus in Blumen gespeichert – das Aufblühen und Vergehen ist wie Zeitraffer.“ Die künstlichen Friedhofsblumen aus der Installation „Unvergesslich“ stehen dabei für den zutiefst menschlichen Wunsch, Schönheit festzuhalten und die Vergänglichkeit zu überwinden. Dettwiler beschreibt ihre Kunst als eine Art „Beziehungsarbeit mit der Umwelt“, die sie herausfordert und überrascht. „Es ist faszinierend, wie die Wissenschaft neue Erkenntnisse über das komplexe Pflanzenleben eröffnet“, schwärmt sie. Denn auch Pflanzen können Empathie zeigen: „Tomaten geben bei Verletzungen Töne von sich und leiten diese Infos dadurch an andere Pflanzen weiter.“ Dettwilers Hauptinteresse gilt allerdings mehr dem „Blick auf die Natur“, erklärt sie. „Bei den weggeworfenen Blumen handelt es sich um Ressourcen, die verbraucht werden. Ich möchte mein Publikum dafür sensibilisieren, dass Abfälle Stoffwechselprodukte unserer Gesellschaft sind. Wie wir mit banalen Plastikblumen umgehen, zeigt, wie wir mit der Natur als Ressource umgehen“, kritisiert sie und fordert zum Umdenken auf.

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