
Männer und ihre Gefühle? Es ist kompliziert! Warum sie oft gar nicht wissen, wie es ihnen wirklich geht – ein Erklärungsversuch ihrer emotionalen Sprachlosigkeit.
Es ist schon überraschend, wie viel so eine simple Geste auslösen kann. Zwei erwachsene Männer, die sich an den Händen halten. Väter und ihre Söhne – in einem zärtlichen Moment vereint. Wer hält wen? Wie sie sich wohl dabei fühlen? „Viele haben sich seit Jahren nicht mehr berührt“, weiß Valery Poshtarov, der für sein Projekt „Father and Son“ Hunderte Männer vor der Linse hatte. „Die Kraft dieser Geste entsteht genau daraus, dass wir sie irgendwann nicht mehr machen – oder zumindest nicht sehr oft“, meint der Dokumentarfotograf, der mit seiner Familie in Sofia lebt. Körperliche Nähe zwischen Männern ist vor allem auch in unserem Kulturkreis verpönt und oft mit Scham und Unsicherheit belegt. Wenn sich Männer berühren, ist das eigentlich fast immer funktional, selten emotional oder zärtlich. „Außer im Fußballstadion. Wenn da ein Tor fällt, liegen sich die Fans in den Armen“, stellt Benjamin Wagner fest. Der Psychotherapeut gründete mit Matthias Tschannett eine Initiative (mannsbuilder.at), um sich über Männlichkeit(en) und Rollenbilder auszutauschen. Aus Erfahrung weiß er, dass Nähe oft mit Schwäche verbunden wird. „Und vielleicht rührt es vor allem männliche Betrachter, die sich wünschten, dass es mehr Körperlichkeit und Zärtlichkeit mit ihrem eigenen Vater gegeben hätte“, vermutet der Experte.


Batak, Bulgarien, 2022
© Valery PoshtarovIkarus-Syndrom
Fakt ist, dass die meisten gar nicht wissen, wie es ist, mit emotional präsenten Vätern aufzuwachsen, ordnet der Berliner Männerforscher Christoph May (detoxmasculinity.institute) ein. Wie denn auch, wenn aktuell nur ein Prozent aller Väter länger als zwei Monate in Karenz geht. Die Erzählung vom emotional abwesenden Vater und dem „Leidensweg“ der Söhne gehöre nicht ohne Grund zu den mächtigsten Narrativen der westlichen Kulturgeschichte, so May. Auch der berühmte New Yorker Männertherapeut Terrence Real stellt seinen männlichen Zeitgenossen ein eher mittelmäßiges Zeugnis aus. Der 74-jährige Autor weiß aus seiner langjährigen Expertise, dass das Patriarchat aus Männern „lausige Lebenspartner und Väter“ mache. Ihre Leiden beschreibt Real als „Ikarus-Syndrom“: „Sie verlassen ihre Familie und fliegen in die Sonne, damit sie sie lieben. Sie glauben, wenn sie 80 Stunden pro Woche arbeiten, werden sie ihrer Liebe würdig sein. Währenddessen sitzen Frau und Kind zu Hause und fragen: ,Wo zum Teufel bist du, Papa?‘“ Woher kommt diese offensichtliche Leerstelle, und warum fällt es vielen Männern so schwer, sich weich zu zeigen und verletzlich? Ein Erklärungsversuch: „Männlichkeit bedeutet bei uns, einen Teil seiner selbst zu unterdrücken und zu verleugnen. Im psychologischen Patriarchat verachten Männer ihre weibliche Seite geradezu“, meint Terence Real. Das zeigt sich vor allem darin, dass Fürsorge und Verbindung gesellschaftlich nicht so geschätzt werden wie typisch männlich konnotierte Eigenschaften.


Gambettola, Italien, 2024
© Valery Poshtarov„Weicheier“
Wir leben in einer Kultur, die Männern nie beigebracht hat, mit Gefühlen umzugehen. Ja, viele realisieren überhaupt erst in ihrer Vaterrolle, dass sie an einem emotionalen Defizit leiden und das, was sich in ihnen abspielt, gar nicht so leicht in Worte fassen können. Das war auch bei Stephan Wabl so. Der Wiener Journalist und Vater einer dreieinhalbjährigen Tochter erinnert sich: „Ich hielt mich für einen fürsorglichen und emotional zugänglichen Menschen. Dann wurde ich Vater und merkte: Hoppla, so ist das ja gar nicht. Ich wollte eine nähere Beziehung zu meinem Kind, als ich selbst es erfahren habe.“ Am Spielplatz lernte er Künstler Florian Lang kennen, ebenfalls Vater. „Endlich mal einer, mit dem man über die schwierigen Seiten des Vaterseins reden kann“, erinnert sich Lang an ihre ersten Gespräche und Wabls Icebreaker: „Streitet ihr zu Hause auch so viel?“ Relativ flott waren sich die beiden Papas einig, dass sie aus ihrem Sandkisten-Deeptalk einen Podcast machen: In „Vaterkater – Wie wir als Väter glücklich scheitern“ (vaterkater.com) plaudern die zwei über Care-Arbeit, Mental Load und ihre Gefühle – und warum sie sich so schwer damit tun. „Uns wurde von klein auf beigebracht, dass Empathie eher etwas für Mädchen und Weicheier ist“, meint Lang. Beide haben erst von ihren Partnerinnen gelernt, wie emotionale Fürsorge funktioniert. „Als ich meine Lebensgefährtin das erste Mal mit unserer Tochter über Gefühle reden hörte, dachte ich sofort: Das möchte ich auch.“ Die größte Herausforderung dabei? „Gefühle zuzulassen. Auch Traurigkeit, Überforderung und Scham. Annehmen, ohne gleich Ratschläge oder Lösungen parat zu haben“, betont Wabl und ergänzt: „Männer sollen immer Dinge ,fixen‘. Das abzulegen hilft.“
Wer keine Sprache für sein Innenleben hat, der fühlt sich einsam, orientierungslos und verzweifelt. Die junge Generation tut sich schwer, gute Vorbilder zu finden, berichten Tschannett und Wagner aus ihren Männergruppen. Die alten Rollenbilder matchen nicht mehr so gut mit unserer Zeit – und den Ansprüchen an „moderne“ Männer. Diese sollen nicht mehr nur stark und durchsetzungsfähig sein, sondern auch gute Väter und aufmerksame Partner. Emotional, einfühlsam und reflektiert. Und bitte ja nicht toxisch! Als „eine gesunde Männlichkeit“ beschreibt Tschannett seine Vision eines neuen Rollenbildes, in dem Kooperation vor Konkurrenz und Fürsorge vor Kontrolle steht. Schaffen wir das? Leider (noch) nicht ganz.


Der bulgarische Dokumentarfotograf Valery Poshtarov startete 2021 damit, Väter und ihre erwachsenen Söhne zu fotografieren – beim Händchenhalten. Für „Father and Son“ war er bereits in elf Ländern unterwegs. Dabei entstanden über 500 berührende Generationenfotos, die von ihm meist spontan aufgenommen wurden. Den nächsten Projektstopp plant er in Frankreich: poshtarov.net
© Valery PoshtarovWut im Patriarchat
Kurzer Realitäts-Check: Immer mehr Alpha-Male-Influencer der sogenannten Manosphere propagieren in den sozialen Medien Muckis und Machtgehabe – diese toxische Männlichkeit kommt bei der jüngeren Generation erschreckend gut an. Wenn die Stabilität im Außen fehlt, flüchten viele in Systeme zurück, die man eben schon kennt. Soll heißen: alte Rollenbilder, schwache Frauen, starke Männer, die in ihrem emotionalen Erleben vor allem eines sind, nämlich limitiert. Und wütend – auf emanzipierte Frauen. „Wut ist das einzige Gefühl, das Männern im Patriarchat zugestanden wird. Wenn ein Mann also ärgerlich ist, kann es genauso gut sein, dass er eigentlich hilflos, traurig oder ängstlich ist“, weiß Terrence Real. Und wie wir wissen, führt Wut nicht selten zu Gewalt – ein beliebtes Mittel, um sich Kontrolle zurückzuerobern. „Misogynie, Antifeminismus oder Femizide sind wirksame Methoden, um die patriarchalen Männlichkeiten zu verteidigen“, ergänzt Christoph May. „Die tragischste Ausformung der emotionalen Sprachlosigkeit sind Suizide. In Österreich werden drei Viertel aller Selbstmorde von Männern begangen, wenngleich Frauen mehr Suizidversuche unternehmen. Männer greifen zu brutaleren Mitteln. Das ist der traurige Preis, den sie für ihre traditionelle Männlichkeit zahlen“, gibt Wagner zu bedenken.
Ausblick
Angesichts dieser drastischen Folgen der emotionalen Sprachlosigkeit des „starken“ Geschlechts – was muss am dringendsten passieren? Anders gefragt: Reicht es überhaupt, Männer zu ermutigen, nur über ihre Gefühle zu reden? „Wohl kaum. Das ist zu wenig, um das Patriarchat zu überwinden“, winkt May ab. „Der männliche Emotionskurs kann nämlich auch ein sehr mächtiger Abwehrdiskurs sein, wenn wir nicht zugleich über strukturelle Gewalt, Feminismus und Patriarchat sprechen.“
Auch die viel zitierte „Male Loneliness Epidemic“ findet May problematisch: „Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2024 zeigt, dass junge Frauen häufiger von Einsamkeit betroffen sind. Männer ignorieren diese Zahlen und rufen indes eine männliche Einsamkeitsepidemie aus, fordern Mitleid sowie Verständnis. Wieder eine typisch männliche Abwehrstrategie: den Diskurs dominieren und alles andere leugnen.“ Was nun? „Männer sollten sich einfach bewusst machen, wie viel sie verpassen, wenn sie sich nicht endlich von tradierten Rollen lösen. Wie viele schöne und traurige Gefühle. Man lernt sich neu kennen“, wissen Wabl und Lang aus eigener Erfahrung.
Abschließende Frage an die Podcast-Papas: Wie sieht ihre Version einer zeitgemäßen Männlichkeit aus? „Er kann kochen, er putzt und macht die Wäsche. Hält seiner Frau die Leiter, wenn sie Mauerrisse verspachtelt. Tanzt mit seiner Tochter Ballett und trägt auch manchmal Rosa. Er frisiert die Haare der Kleinen und lackiert seine und ihre Nägel“, formuliert Lang seine Vorstellung und sagt abschließend: „Viele Männer würden für ihre Familie sterben. Ich möchte für meine leben.“


Petvar, Bulgarien, 2022
© Valery Poshtarov



