
Ciao Handy, hallo Lebenszeit: In einem Bergdorf sperren Gäste ihr Smartphone weg – und öffnen den Blick für das Wesentliche. Warum Digital Detox notwendig ist und wie es jedem gelingt.
Ein komplett abgeschiedenes Bergdorf in Vorarlberg auf 1.423 Höhenmetern – der perfekte Rückzugsort. Genau hier fand zum ersten Mal das „Offline-Dorf“ statt, ein Retreat, in dem die Gäste einfach mal abschalten sollen. So richtig. Die Smartphones werden beim Einchecken in einen kleinen Käfig verabschiedet, nichts soll von der Offline-Experience ablenken. Hinter dem Konzept des weltweit ersten Digital-Balance-Retreats steht Linda Meixner. Die Vorarlbergerin möchte einen nachhaltig gesunden Umgang mit Smart Devices fördern.
Das Ziel: „Bewusste Zeit im Hier und Jetzt, mehr Entschleunigung. Wenn Sie sich nach einem achtsameren Umgang mit der Technik sehnen, dann ist das Offline-Dorf genau für Sie gemacht“, schwärmt die 35-jährige Gründerin. Was sie dazu inspiriert hat? Ihre eigene Geschichte – als Content Creatorin und Marketing-Managerin war Meixner 24/7 online. Sie erinnert sich: „Zu meinen Höchstzeiten hatte ich 60 Stunden Bildschirmzeit pro Woche, das Smartphone war für mich die ultimative Hirnverlängerung. Mails morgens im Bett checken, immer und überall erreichbar sein.“ Bis Meixner eines Tages mit einer gelähmten Schulter aufwachte: „Ich fragte mich, was so schwer in meiner rechten Hand lag? Und dann: Wer bin ich als Mensch ohne mein Smartphone? Ja, wer bin ich überhaupt ohne Internet?“ Dem mulmigen Gefühl folgte eine radikale Entscheidung. „Ich wollte wissen, was passiert, wenn ich offline gehe.“
Cia, Handy!
Zeit für einen Neustart – Meixner wagte ein Experiment und verzichtete 66 Tage auf ihr Smartphone. Begleitet von einer systemischen Psychotherapie begann sie, die Veränderungen in ihr auch wissenschaftlich zu dokumentieren. Und es tat sich einiges: „Ich konnte mich auf einmal an meine Träume wieder erinnern, mein Tiefschlaf hat sich verdoppelt. Ich war eine bessere Zuhörerin und wurde auch kreativer.“ Was sie vermisst hat? „Den einfachen, schnellen, guten Kontakt zur Familie. Dafür mussten wir anders kommunizieren, und es entstanden tiefere Gespräche“, erinnert sich die Vorarlbergerin an diese herausfordernde Zeit. „Der Versuch war eine Reise ohne Anfang und Ende. Das Experiment hat bis heute mein Leben beeinflusst.“ Ihre Erkenntnisse aus der Offline-Zeit verarbeitete die damalige Kommunikationsdesign-Studentin in ihrer Abschlussarbeit – die demnächst vielleicht sogar als Buch („Das Offline-Manifest“) erscheinen soll. Heute möchte sie anderen Menschen dabei helfen, sich die eigenen digitalen Gewohnheiten vor Augen zu führen und diese bewusst zu verändern.
Das erste Offline-Dorf 2023 war ein voller Erfolg. Auf ihrer Website kann man sich bereits für die nächste digitale Fastenkur vormerken lassen. „Wir sollten in Zukunft anstatt Smartphones wieder mehr Glück in den Händen halten“, wünscht sich die Gründerin. Gerade durch die Entwicklung der künstlichen Intelligenz werden die Räume, in denen wir wirklich Mensch sein können, immer weniger, gibt Meixner zu bedenken. Durch die KI wird alles schneller, lauter, verführerischer. Aber wir sind biologisch nicht darauf ausgerichtet, immer online zu sein.“ Für Meixner ist Detox keine Anti-Digital-Haltung, sondern eine notwendige Atempause, um selbst wieder das Steuer zu übernehmen. Und sie betont, dass vor allem Frauen in Führungspositionen unbedingt klare Grenzen und digitale Balance vorleben müssen: „,Always on‘ tut niemandem gut. Wir sollen uns nicht dafür entschuldigen, nicht erreichbar zu sein – sondern bewusst auch mal offline gehen.“


Das Pilotprojekt von Linda Meixners Offline-Dorf fand 2023 in einem kleinen Bergdorf in Vorarlberg statt und war ein voller Erfolg. offline-institute.com
© Buero LudwinaHallo, Lebenszeit!
Nachdem die künstliche Intelligenz zunehmend unseren Alltag prägt, gewinnen bewusste Offline-Phasen an Bedeutung – davon ist Digitalisierungspionierin Anitra Eggler überzeugt. „Wir sind im Begriff, mit KI-Raketenantrieb in eine Zukunft zu rasen, ohne je gelernt zu haben, rechtzeitig zu bremsen.“ Dabei sei Abschalten nicht nur mental wichtig, sondern auch erfolgsentscheidend. Eggler warnt: Der digitale Lärm und die Täuschungsmöglichkeiten durch KI – gefälschte Mails, Deepfakes, Fake-Stimmen – machen es immer schwieriger, zwischen echt und falsch zu unterscheiden. „Wer verlernt hat, sich zu fokussieren, kann die Wahrheit nicht mehr erkennen.“
Ihr persönlicher Weckruf kam viel früher: 2010 las sie in einer Studie, dass wir im Lauf eines 75-jährigen Lebens durchschnittlich acht Monate mit dem Löschen unerwünschter Mails verbringen – und nur zwölf Stunden mit Küssen. „Das war der Moment, in dem mir klar wurde: So geht’s nicht weiter.“ Egglers Devise: Digitalisierung soll Zeit sparen und effizienter machen – und nicht bedeutsame Lebenszeit kosten. Seitdem beschäftigt sich die Expertin damit, wie Digital Detox nachhaltig gelingen kann. Sie weiß: „Es beginnt nicht am Wochenende, sondern täglich im Bett. Denn wer morgens zuerst aufs Handy schaut und abends mit dem Handy einschläft, hat einen digitalen Jetlag.“ Kurzzeitverzicht könne sich zwar gut anfühlen, bringe oft jedoch den doppelten Jo-Jo-Effekt. Andererseits kann ein Ausflug ins Offline-Dorf wieder den Blick fürs Wesentliche schärfen und daran erinnern, „welche Lebensqualität man gewinnt, wenn man nicht alles fotografiert, likt und postet – sondern einfach erlebt.“ Wenn wir lernen, abzuschalten, gewinnen wir die Kontrolle zurück: „Über unsere Zeit. Unser Denken. Unser Fühlen.“
Ihr Rat: „Tragen Sie Zeit zum Auftanken genauso in den Kalender ein wie Kundentermine. Und halten Sie sich dran – wie an die Deadline für ein Millionenprojekt.“ Eggler empfiehlt maximal drei Stunden Handyzeit pro Tag, davon 30 Minuten für Social Media: „Der Rest ist Zeit für mich.“ Und diese sollte nicht erst Priorität haben, wenn wir in einem abgeschiedenen Bergdorf einchecken.


Gemeinsam essen, ohne dabei aufs Handy zu schauen: Die Gäste des Offline-Dorfs sollen ihre digitalen Gewohnheiten bewusst ändern.
© Buero LudwinaIhr Weg zur Screen-Life-Balance
Bildschirm aus, Leben an: vier Tipps, mit denen Digital Detox im Alltag gelingt.
1. BEWUSSTE BILDSCHIRMZEIT: Statt ständig aufs Smartphone oder den Laptop zu starren, hilft es, sich klare digitale Zeitfenster zu setzen. Zum Beispiel: E-Mails nur dreimal täglich checken, soziale Medien nur abends. So entsteht ein Rhythmus, in dem nicht das Gerät, sondern Sie die Taktung vorgeben.
2. DIGITALE RÄUME BEGRENZEN: Geräte in greifbarer Nähe verführen. Wer das Handy mit ins Bett nimmt oder beim Frühstück durch Feeds scrollt, macht den Bildschirm zum ständigen Begleiter. Ein einfacher, aber wirkungsvoller Trick: bildschirmfreie Zonen schaffen, zum Beispiel das Schlafzimmer, die Küche oder den Esstisch.
3. MONO-STATT MULTITASKING: Multitasking am Bildschirm – etwa E-Mails beantworten, während eine Nachricht reinkommt und ein Video im Hintergrund läuft – überlastet das Gehirn und macht auf Dauer unkonzentriert und erschöpft. Sich hingegen bewusst nur einer digitalen Tätigkeit zu widmen, schont kognitive Ressourcen.
4. OFFLINE-ROUTINEN ETABLIEREN: Je attraktiver das Leben außerhalb des Bildschirms ist, desto weniger zieht es einen ins Digitale. Hilfreich ist es, feste Offline-Routinen in den Alltag einzubauen: ein Spaziergang ohne Handy, analoges Lesen, Kochen mit Musik statt Podcast, Tagebuch schreiben. Das schafft Gegenpole zur Bildschirmzeit.




