
In der Liebe, im Job, in der Spiritualität: Den eigenen Platz im Leben zu finden, ist eine Kunst – und eine Notwendigkeit. Der Wiener Psychiater Raphael Bonelli verrät, worauf es dabei ankommt.
Es gibt Menschen, die eine faszinierende Ruhe ausstrahlen, die sie zu angenehmen Zeitgenossen macht. Sie sind erfüllt von einer tiefen Zufriedenheit und verspüren keinen Drang, sich mit anderen zu messen oder Neid zu empfinden. „Wir sprechen hier von Menschen, die sich nirgends anders hinwünschen als dorthin, wo sie im Moment sind“, erklärt der renommierte Wiener Neurowissenschaftler und Psychiater Raphael Bonelli. In seinem Buch „Die Kunst des Ankommens“ beschreibt er jene „Glücklichen“, die nicht mehr suchen, sondern gefunden haben – ihren Platz, ihre Bestimmung, ihr Gleichgewicht. „Wer angekommen ist, hat den Egotrip nicht mehr nötig“, sagt Bonelli. Doch wie also gelingt dieses Ankommen? Wir haben ganz genau nachgefragt.
Wir alle suchen ständig, zum Beispiel in der Liebe: Die Auswahl an möglichen Partner:innen ist durch Online-Plattformen unüberschaubar groß geworden. Das verleitet uns dazu, zu denken: Vielleicht gibt es ja noch jemand Besseren? Wie soll man da ankommen?
Richtig. Wir leiden an einem Überfluss der Möglichkeiten. Das hat Konsequenzen: Es destabilisiert jede Beziehung. Irgendwann muss mit der Suche Schluss sein. Dann erst kann man aus dem Bestehenden das Beste machen. Es ist eine Frage des Commitments. Erfahrene Paartherapeut:innen versuchen deshalb immer zuerst, Bestehendes zu optimieren. Dazu kommt: Betroffene neigen dazu, ihre Probleme in die nächste Beziehung mitnehmen.
Warum können sich manche Menschen leichter „committen“ als andere?
Um in einer Beziehung anzukommen, muss man selbst beziehungsfähig sein. Das bedeutet, sich selbst relativieren zu können, Kritik anzunehmen. Auch zu viele Selbstzweifel können ein Hindernis sein, ebenso wie Perfektionismus. Wir müssen akzeptieren lernen: Nichts ist perfekt.
Wie weiß man, dass eine Partnerschaft diese Mühe wert ist? Also dass es „wirklich passt“?
Ein gutes Kriterium für den richtigen Partner ist die Harmonie in drei Bereichen. Erstens: die des Bauches, also der Gefühle. Ich muss den anderen riechen können, ihn körperlich attraktiv finden, ihn gerne berühren und Sehnsucht haben, berührt zu werden. Zweitens die Harmonie des Kopfes: Das Gespräch miteinander muss funktionieren, interessant und anregend sein. Die meisten Paare, die in Krisensituationen zu mir kommen, haben nie gelernt, miteinander zu sprechen. So bilden sich immer mehr Tabu-Themen, die wie Eiterherde größer werden und die Beziehung infizieren. Und drittens die Harmonie des Herzens, also die Abgleichung der Werte. Was finden wir wichtig und essenziell? Ein agnostischer Klimakleber passt wahrscheinlich nicht gut zu einer traditionellen Muslima. Der Gleichklang in den wesentlichen Werten wird erstaunlich oft übersehen. Ich kann mich an eine politisch sehr weit links stehende Patientin erinnern, die eine Affäre mit einem Burschenschaftler begonnen hatte. Das ging viel zu lange „gut“, weil der Sex außerirdisch war. Ankommen tut man so aber nicht.
Welche inneren Blockaden gibt es noch, die einem eine erfüllte Beziehung schwer machen?
Ich habe in meinem neuen Buch zwölf Blockaden des Ankommens definiert – das geht von Gier und Angst über Oberflächlichkeit bis hin zu Narzissmus. Jede dieser Blockaden hat enorme Relevanz. Herausheben würde ich hier vielleicht noch unsere verkitschte Vorstellung von Liebe: Dieses Missverständnis lässt den Menschen nicht das „Du“ suchen, sondern ein euphorisches Gefühl, welches das Gegenüber in uns auslösen muss. Es geht einem also gar nicht um die Person per se, diese ist nur Mittel zum Zweck der eigenen Gefühle. Das kann auf Dauer nicht funktionieren.


© Stefan Gergely
Oft denken wir, andere hätten es besser erwischt als wir selbst. Das lässt uns auch weitersuchen, oder?
Auf jeden Fall. Jeder Vergleich mit anderen Menschen ist ein Denkfehler. Denn jeder Mensch, jedes Beziehungsgeflecht ist einzigartig und unvergleichlich. Aber wir schauen natürlich trotzdem, was die anderen so machen. Wir leben in einer perfektionistischen Gesellschaft, die das geglückte Leben vereinfachend an eine für alle sichtbare „Leistung“ knüpft. Das ist ein grober Irrtum! Diese nach außen hin „Erfolgreichen“ sitzen als Patient:innen in meiner Praxis. Sie sind nicht glücklich. Der Vergleich macht unglücklich, weil er den Neid triggert.
Am Ankommen hindert uns auch die Angst, etwas zu verpassen. Was kann man dagegen tun?
Diese „Fear of Missing Out“ (FOMO) ist eine Folge unseres perfektionistischen Leistungswahns. Man „muss“ eben auch noch im Privatleben auf jeder Hochzeit tanzen, auf den wichtigen Events dabei sein. Es mangelt an Gelassenheit. Der erste Schritt raus aus diesem sich immer schneller drehenden Karussell ist die Selbsterkenntnis, dass man nach Anerkennung von außen giert, statt sich seiner inneren Werte zu besinnen. Es tut gut, sich eine Zeit lang in die Ruhe, ohne Handy, zurückzuziehen, um zu überlegen, was einem wirklich wichtig ist im Leben.
Der Job zum Beispiel. Doch es scheint nur wenige Menschen zu geben, die Erfüllung in ihrem Traumjob finden.
Ja, das stimmt leider. Um im Beruf anzukommen, empfehle ich, drei wichtige Kriterien zu prüfen: Eignung, Neigung und Notwendigkeit.
Ein künstlerisch begabter Mensch möchte vielleicht Musiker:in oder Maler:in werden. Doch es schaffen nur wenige, von ihrer Kunst zu leben.
Sowohl in der Musik wie auch beim Malen trifft das Kriterium der Eignung zu. Hier ist die Spitze dünn, und ein mittelmäßiges Talent wird sich auf lange Sicht nicht durchsetzen. Ganz wesentlich ist die realistische Selbsteinschätzung. Solange der Durchbruch nicht geschafft ist, muss man sich ganz pragmatisch mit einem „Brotberuf“ den Unterhalt verdienen. Ein Idealist, der seine Kunst liebt, würde das auch bereitwillig tun.
Geld, Ruhm und Macht ist eine trügerisch-triviale Trias, eine Fata Morgana: Kaum glaubt man sich am Ziel, will man mehr.
Sollte man einen Beruf, der einen erfüllt, etwa im sozialen Bereich, einem Job mit höherem Verdienst vorziehen? Oder können auch Geld, Ruhm und Anerkennung sinnstiftend sein?
Nicht wirklich. Es kann zwar ein Ziel sein, aber das allein macht nicht glücklich. Ich nenne das die trügerisch-triviale Trias: Geld, Ruhm und Macht. Diese drei als Ziel machen nie satt und können innerliche Leere nicht füllen. Sie sind eine Fata Morgana: Kaum ist man dort, will man mehr. Es ist, als ob Sie Salzwasser trinken: Der Durst wird nie gelöscht. Es ist so wichtig, zu begreifen: Man findet das Glück dort nicht, das man vorher herbeifantasiert hat. Aber Geld, Ruhm und Macht als zufälliges „Nebenprodukt“ eines gelungenen Lebens können schon sehr nützlich sein.
Was bedeutet es, in spiritueller Hinsicht anzukommen?
Ich verstehe darunter etwas, das mit Selbsttranszendenz zu tun hat, also das eigene Ego übersteigt. Der Dienst am Wahren, Guten und Schönen. Bei den meisten ist es das religiöse Leben.
Wie finde ich Zugang zu meiner Spiritualität?
Ich empfehle stundenlanges Spazieren-gehen durch den Wald, allein und ohne Handy. Oder sich mal, ebenfalls ohne Handy, in eine ruhige Kirche setzen. Auch einen Berg zu besteigen und die Welt von oben in Ruhe zu genießen, hilft aus der Hektik auszusteigen. So kommen wir wieder zu uns.
Was macht Social Media mit unserer Psyche?
Es erschöpft uns. Das sinnlose Zeit-totschlagen hat keinen Erholungswert. Während man sich nach dem Lesen eines guten Buches etwa kognitiv erholt, ist das Surfen durch die Online-Vergnügungen am Ende immer unbefriedigend.
Es ist angenehm, von Menschen umgeben zu sein, die im Leben bereits angekommen sind. Wie erkennt man sie?
Das sind Menschen, die in sich ruhen, die ihren Platz gefunden haben. Sie leben in harmonischen Beziehungen, sprechen wenig von sich und achten umso mehr auf das Gegenüber. Sie vertreten höhere und beständige Werte und haben einen Sinn für das Wahre, Schöne und Gute. Sie sind im Frieden mit ihrer Lebensgeschichte. Ich würde diese höchst anziehende Eigenschaft die „Weisheit des Herzens“ nennen. Von solchen Menschen umgeben zu sein, ist zweifelsohne angenehm. Doch noch wichtiger ist es, von ihnen zu lernen und es ihnen gleichzutun.
Ist das „Ankommen“ auch eine Frage der Erfahrung und des Alters?
Das sind sicher wichtige Faktoren. Aber man kann auch unklug altern. Menschen können aus Fehlern lernen, müssen das aber nicht unbedingt. Das Scheitern ist der Scheideweg: Während Unkluge dadurch verbittern, kommen Kluge scheiternd zu einer Demut und Weisheit, die sie das Leben lehrt. Was meinen Patient:innen und auch mir ebenfalls weiterhilft, ist die Sterbebettfrage, die man in der Psychotherapie gerne anwendet: Was will ich, das von mir bleibt? Was macht mich aus? Was hätte ich gerne unterlassen? Was hätte ich gerne noch gemacht? So können Menschen über ihren Schatten springen, zu sich selbst finden und die beste Version ihrer selbst werden.