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Wer will heute noch Workaholic sein?

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9 min
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©Albane Brand Photography
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Wann ist es normal geworden, dass wir alle Stress haben? Zeit für einen Perspektivenwechsel mit Kulturhistorikerin Anna Katharina Schaffner.

Erschöpfung sei die vorherrschende Pandemie der heutigen Zeit, sagt Anna Katharina Schaffner. Die deutsche Kulturhistorikerin beschreibt in ihrem Buch „Erschöpft? Belebende Perspektiven für müde Menschen“ (dtv, € 18,–), wie wir unser Energietief überwinden können. Sie erlitt selbst ein Burnout und hilft heute als Coach Menschen beim Entspannen und Zurechtrücken der Work-Life-Balance. Worauf es dabei ankommt und warum es durchaus problematisch sein kann, wenn wir uns in der Arbeit selbst verwirklichen wollen …

WOMAN

Frau Schaffner, ist unsere Gesellschaft heute erschöpfter als noch vor 100 Jahren?

Anna Katharina Schaffner

Die Menschen hatten schon immer Angst vor Krankheit und Schwäche. Die Digitalisierung unserer Welt hat allerdings viele neue Stressoren in unser Leben eingeführt und die Grenzen zwischen Job und Erholen porös gemacht. Wir überbewerten Arbeit massiv: Sie ist nicht nur eine Quelle für Status und Einkommen. Wir glauben, dass sie eine Chance zur Selbstverwirklichung, zur Verbindung, zur Gemeinschaft, zur Identität bietet. Wenn wir die Leute im Small Talk fragen, was sie beruflich machen, meinen wir: Wer sind sie? Wir erwarten von der Arbeit, dass sie Sinn und Wert liefert und eine umfassende existenzielle Rechtfertigung darstellt.

WOMAN

Menschen, die sich nur schlecht von ihrer Arbeit lösen können, werden ja gerne mal als Workaholic bezeichnet. Wie beurteilen Sie diesen Begriff?

Anna Katharina Schaffner

Ich glaube, dass heute so viele Leute technisch gesehen Workaholics sind, dass wir das Wort gar nicht mehr benutzen, weil es zur Normalität geworden ist. Es ist so leicht, arbeitssüchtig zu werden, weil unser Beruf mit einer so enormen kulturellen Wertschätzung verbunden ist. Und je mehr wir arbeiten, desto leerer wird unser Leben in anderen Bereichen. Wenn wir den größten Teil unserer Zeit und Energie in unseren Job stecken, werden andere Teile von uns verkümmern – Beziehungen, Kreativität, das, was uns spirituell und emotional nähren könnte, unser Körper. Unser Leben schrumpft. Es ist, als würden wir in unserem Haus nur in einem Raum leben, und alle anderen Räume wären unbewohnbar, weil sie so kalt und leer sind.

WOMAN

Wenn die Arbeit Sinn stiftet und zur Selbstverwirklichung beitragt – ist das nicht etwas Positives?

Anna Katharina Schaffner

Theoretisch ja, praktisch nein. Oft ist unsere Erwartungshaltung einfach so hoch, dass wir nur enttäuscht werden können. Und je größer der Abstand zwischen Ideal und Realität wird, desto anfälliger werden wir für Burnout. Gerade weil die Arbeit so überbestimmt ist, kann sich das Leiden am Arbeitsplatz auf alle Aspekte unseres Lebens auswirken.

WOMAN

Etwas, das Sie selbst erlebt haben, als Sie noch als Uni-Professorin für Kulturgeschichte gearbeitet haben …

Anna Katharina Schaffner

Ich hatte das Privileg, dass meine Leidenschaft auch mein Job war. Ich habe viel zu viel gearbeitet und hatte immer das Gefühl, dass ich mehr tun muss, mehr lesen, mehr schreiben, mehr publizieren. Dabei habe ich immer mehr aus meinem Leben gestrichen, was nicht Arbeit war. Ich habe am Ende den ganzen Tag vor meinem Laptop gesessen, aber ohne wirklich produktiv zu sein oder mich zwischendurch auszuruhen.

WOMAN

Heute arbeiten Sie als Burnout-Coach und haben Ihre Uni-Karriere an den Nagel gehängt. Was hilft den Menschen, die zu Ihnen kommen?

Anna Katharina Schaffner

Ganz wichtig ist, wieder Aktivitäten ins Leben einzuführen, die uns Energie geben – Freunde sehen, Sport, in die Natur gehen, Musik, Kunst, was auch immer es ist. Wir müssen lernen, zu entspannen, richtig loszulassen. Das ist gar nicht so einfach. Wenn man an Burnout leidet, hat man meistens eine sehr große Unruhe im Kopf, ganz viele rasende, negative Gedanken. Es ist wichtig, Körper und Geist wieder in tiefenentspannte Zustände zu bringen. Oft planen Klient:innen auch einen Karrierewechsel, weil sie merken, dass sie in ihrem alten Leben nicht mehr weitermachen können. Und wir arbeiten daran, nachhaltig gute Arbeitsgewohnheiten zu entwickeln, mit Pausen und klaren Grenzen.

WOMAN

Sie forschen auch über die Geschichte der Erschöpfung. Seit wann begleitet uns dieses „Problem“?

Anna Katharina Schaffner

Die Sorge um den Verlust der eigenen Kraft und Energie sowie Spekulationen über die Ursachen reichen bis ins alte China zurück. Unsere Vorfahren machten sich Sorgen über Mittagsdämonen, lauen Glauben, den bösartigen Einfluss des Planeten Saturn, die Hektik des Stadtlebens, zu scharfes Essen, überspannende Romane, Beschleunigung und zu viel Gehirnarbeit. Wir haben eine Tendenz, sozialen Wandel als bedrohlich zu empfinden und ihn für unsere Erschöpfung verantwortlich zu machen. Veränderung kostet ja auch Energie und kognitiven und emotionalen Aufwand.

WOMAN

Gab es denn ein bestimmtes Zeitalter, in dem wir besonders müde waren?

Anna Katharina Schaffner

Erschöpfungstheorien und Diagnosen gab es schon immer. Aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese Diagnosen immer populärer. Die Neurasthenie war die erste große Erschöpfungsmodediagnose – eine Zivilisationskrankheit, die sich rasant verbreitete.

WOMAN

Was kann man sich darunter vorstellen?

Anna Katharina Schaffner

Neurasthenie wurde als erschöpfungsbedingte Nervenschwäche verstanden, und die Ursachen waren anstrengende Kopfarbeit und Beschleunigung: Telegrafie, Eisenbahnen, Straßenbahnen, Autos sowie das Hetzen und Treiben in der Stadt wurden immer wieder als Faktoren genannt. Auch wurde zum Beispiel die Emanzipation der Frauen für die wachsende Energielosigkeit in der Bevölkerung verantwortlich gemacht. Aber Neurasthenie hatte auch positive Konnotationen: Es waren vor allem sensible und kultivierte Geistesarbeiter:innen betroffen. Es wurde ganz viel darüber geschrieben und geredet, und es war fast ein Statussymbol, Neurastheniker:in zu sein.

WOMAN

Ein Blick in die Zukunft: Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft?

Anna Katharina Schaffner

Die gute Nachricht ist, dass wir uns langsam wieder entfernen von der heimlichen gesellschaftlichen Bewunderung für Stress und Workoholism und der Wertschätzung von totaler Aufopferung in der Arbeit. Wir wissen jetzt, wie gefährlich das alles längerfristig ist. Vielleicht wird eine gute Work-Life-Balance bald zum nächsten Statussymbol.

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